Bereits seit drei Jahren tobte der 1. Weltkrieg zwischen den Mächten, der am Ende 17 Millionen Todesopfer fordern sollte. Die verlustreichen Schlachten an der Marne, vor Verdun und an der Somme waren da schon Geschichte. Da wollte ein Mann nicht nachstehen. Sein Name: Martin Heidegger. Auch er sah sich in titanische Gefechte geworfen, sprach von „Kämpfen“, „Opfern“ und „Verzicht“. Doch das alles hatte mit dem Krieg, der da auf den „killing fields“ Europas wütete, nichts zu tun. „In seinen persönlichen Aufzeichnungen und Briefen“, so Wolfram Eilenberger, „finden die Greuel des Kriegs keine Erwähnung.“ Wenn Heidegger die soldatischen Vokabeln bemüht, „meint er vorrangig sich selbst, seine akademische und persönliche Situation. Die eigentliche Front verläuft für ihn seit dem Winter 1917 nicht in den Ardennen, sondern in den eigenen vier Wänden.“ Dieser bis ins Operettenhafte überzogene Heroismus zeichnete unseren Meister aus Meßkirch zeit seines Lebens aus. Das hat auch Rüdiger Safranski deutlich herausgearbeitet. So war für Heidegger die nationalsozialistische Machtübernahme 16 Jahre später keine politisch-gesellschaftliche, sondern eine philosophisch-metaphysische Revolution. Und in dieser lebten nicht die Verfolgten des neuen Regimes gefährlich, sondern die Philosophen … also die wahren Philosophen … also Heidegger. „Wer sich“, so zeichnet Safranski die Gedanken des Philosophen nach, „aus der Höhle der Schatten (der Meinungen, Gewohnheiten, Alltagseinstellungen) befreit, kommt erst richtig zur Welt, zur wirklichen Welt … Es ist die Welt gesehen aus der Perspektive der Eigentlichkeit, die Arena der Geworfenheit und des Entwurfs, der Sorge, des Opfers, des Kampfes, eine Welt vom Geschick durchwaltet, vom Nichts und dem Nichtigen bedroht; ein gefährlicher Ort, an dem nur die zur Obdachlosigkeit Entschlossenen, die wirklich Freien, aushalten können, ohne Schutz suchen zu müssen unter dem Dach vorgegebener Wahrheiten.“
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Und während die großen Jungs auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene die ganz knallharten Fakten schufen, träumte Klein-Martin seinen altplatonischen Traum von der Führung des Volkes nicht gerade durch die Philosophie an sich, aber durch seine eigene Seins-Philosophie, und glaubte dabei doch immer fest daran, auch zu den großen Jungs zu gehören. Biedermann und die Brandstifter. Ab 1934 erkennt Heidegger seinen Irrtum, wendet sich nach und nach vom Nationalsozialismus ab, stellt nun aber seine Abkehr wiederum in den ganz großen Rahmen eines metaphysisch grundierten Heldennarrativs. Die Katze lässt das Mausen nicht. Heidegger – so Safranski – macht „seine politische Unerfahrenheit, nicht jedoch seine philosophische Deutung der Ereignisse verantwortlich dafür, dass er sich in der nationalsozialistischen Revolution versehen hatte. Später … wird er dieses Versehen auch wieder in eine philosophische Geschichte verwandeln, worin er sich selbst eine grandiose Rolle vorbehält: es war das Sein selbst, das sich in ihm und durch ihn geirrt hatte. Er hat den Kreuzstab der Irrnis des Seins getragen.“ Eine Mischung aus heroischer Selbst-Überhöhung und Opferkult, die zuweilen auch in unseren Tagen wieder fröhliche Urständ feiert. Safranski findet für Heidegger die ebenso doppelsinnige wie treffende Bezeichnung „Ein Meister aus Deutschland“ – so der Titel seines Buches über den Denker aus dem Badischen. Der Bezug zu Paul Celans berühmtem Gedicht „Todesfuge“ springt direkt ins Auge. Aber gleichzeitig zollt Safranski damit dem Meisterlichen des Heideggerschen Denkens seinen Respekt. Zu Recht.
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Von seinem Lehrer Edmund Husserl hatte Heidegger gelernt, dass Bewusstsein immer Bewusstsein „von etwas“ ist. Das Bewusstsein ist also keine leere Theaterbühne, auf die man mal – je nach Gusto – etwas vorführt, um es der distanzierten Betrachtung eines interessenlosen Zuschauers zu unterziehen. Im Gegenteil: Das Bewusstsein ist immer mit etwas beschäftigt – mit dem Glas Wasser vor mir, der eigenen Karriereplanung, mit dem Buch, das ich lese, den Nachrichten, die ich höre, den Wein, den ich schmecke … Tritt ein undeutliches Etwas vor unsere Augen, krallt sich unser Bewusstsein solange daran fest, bis es sein Rätsel gelöst hat. Zudem kann hier vieles durcheinander gehen und sich überlagern. Ich kann gerade in einem ziemlich nervenden Telefonat mit meinem Chef verwickelt sein, lenke mich zugleich mit Gedanken an den nächsten Urlaub ab und werde von einem Hungergefühl überrascht. Es ist die innere Welt der Gefühle, Überzeugungen und Vor-Urteile, die die Deutung des jeweils in den Fokus gerichteten „Dings“ oder „Ereignisses“ immer schon vorprägt. Safranski: „Das Wollen, Bewerten, Lieben hat seinen jeweils ganz eigenen Gegenstandsbezug, der ´Gegenstand´ ist in diesen Akten jeweils ganz anders gegeben. Derselbe ´Gegenstand´ ist fürs Bewusstsein ein anderer, je nachdem, ob ich ihn in Neugier, in Hoffnung, in Angst, in praktischer oder theoretischer Absicht erfasse.“ Im Interesse einer streng wissenschaftlichen Erkenntnis gilt es nun, diese vorgeprägten Bewertungen methodisch auszublenden. Phänomenologische Reduktion nennt Husserl das, das dem radikalen Zweifel des René Descartes nicht unähnlich ist. Bewegen wir uns hier noch ganz in den Gedankenbahnen des altehrwürdigen Professors, wird es nun richtig heideggerisch. Für ihn ereignet sich Wahrheit immer erst im Rahmen des Lebensvollzuges, nicht jenseits – in objektivierender Weise – davon. Für Heidegger „gibt es nur ein Wahrheitsgeschehen, das im Selbst- und Weltverhältnis des Menschen sich vollzieht. Der Mensch entdeckt keine unabhängig von ihm existierende Wahrheit, er entwirft – in den verschiedenen Epochen jeweils verschieden – einen Deutungshorizont, in dem das Wirkliche einen bestimmten Sinn enthält.“
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Wenn ich im Begriff bin, einen Nagel in die Wand zu schlagen, dann nähere ich mich dem dafür notwendigen Hammer nicht in einer naturwissenschaftlichen Weise. Ich beurteile ihn also nicht aus einer distanzierten Zuschauerposition aus, etwa indem ich ihn aus Holz und Metall bestehend wahrnehme, die wiederum aus Molekülen bestehen, die wiederum aus Atomen bestehen, die wiederum …, sondern ich bewerte ihn nur danach, ob er meinem Zweck entspricht, einen Nagel in die Wand zu schlagen. Fällt die Antwort negativ aus, lege ich ihn achtlos weg, und er verschwindet aus meinem Bewusstsein und meinem Leben. Bei positivem Bescheid nutze ich ihn zur Erreichung meines Ziels, und in dieser Form des hantierenden, gebrauchenden Besorgens – so Heideggers Fazit – offenbart sich das Wesen dieses Dinges. Der Hammer ist also nicht ein Objekt plus Bedeutung, im Gegenteil: „das Bedeutsame ist das Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne jeden gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen“ (Heidegger). Diese neuartige Betrachtung hat Konsequenzen bis in die Heideggersche Sprache hinein. So bezeichnet er ein Objekt, sofern wir es in unsere Zwecke einspannen, als Zeug – in Anlehnung an Begriffe wie Werkzeug, Fahrzeug, Spielzeug oder Ölzeug. Und diese Dinge sind nicht einfach nur vorhanden (was der naturwissenschaftlichen Betrachtung entspräche), sondern zuhanden, sprich: zu Händen des Menschen. Womit wir hier ein Beispiel dafür gefunden haben, dass Heideggers Sprachschöpfungen nicht ausschließlich zu bloßem Wortgeklingel führen, sondern zuweilen auch dem Erkenntnisgewinn dienen können.
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Aber weiter: In diesem hantierenden, besorgenden Gebrauch des Zeugs verliert sich die säuberliche Trennung von Subjekt und Objekt. Der Mensch findet sich in der gegebenen Welt immer schon vor, geht mit ihr um und schafft dadurch die für ihn relevanten Sinnbezüge. Hierbei, so Safranski, „erfahre ich weder zuerst mich selbst und dann die Welt, noch umgekehrt zuerst die Welt und dann mich selbst, sondern in der Erfahrung ist beides zugleich in unauflöslicher Verbindung gegeben.“ Das Bewusstsein ist weder Subjekt noch Objekt, sondern ein Dazwischen: „Denken und Wahrnehmen sind zunächst einmal Vorgänge in einem Bewusstseinsstrom aus lauter selbstvergessenen Akten … Das Bewusstsein ist zunächst ganz das, wovon es Bewusstsein ist, der Wille verschwindet im Gewollten, das Denken in dem Gedachten, die Wahrnehmung in dem Wahrgenommenen“ (Safranski, 96). Dieses In-der-Welt-sein ist damit einer naturwissenschaftlichen Sicht diametral entgegengesetzt. Denn diese kürzt den menschlichen Betrachter zunächst aus ihren Gleichungen heraus und schafft sich damit eine Welt voller Objekte. Diesen stellt sie dann den Menschen als reines, weltfreies Subjekt gegenüber, das mit dieser ganzen Chose eigentlich nichts zu tun hat. Eine sekundäre, abstraktive Leistung, wie Heidegger befindet. Im Rahmen dieser Subjekt-Objekt-Spaltung tritt das Bewusstsein vor sich selbst zurück, wird sich seiner intentionalen Akte inne und erschafft sich zugleich das eigene Ich: „Erst eine elementare Reflexion, das Bewusstsein des Bewusstseins also, trennt und entdeckt: hier ein ´Ich´, ein Subjekt, als Eigentümer seines Bewusstseins, und dort die Objekte.“ Ein wirklich haarscharf beobachteter Sachverhalt, der auch in phylogenetischer Hinsicht Bedeutung hat, markiert er doch zugleich einen Zeitpunkt innerhalb unserer Stammesgeschichte, in dem sich unser Verhaltensprogramm instinktgesteuerter („selbstvergessener“) Akte um ein kognitives System erweiterte, das nicht nur die Dinge, sondern auch sich selbst zum Objekt machte und zu sich selbst „ich“ zu sagen begann.
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Diese historische Konstellation war erforderlich, bevor der Mensch sein erstes Wort zu sprechen beginnen konnte. Denn ob geschriebener Text oder mündliche Erzählung – die Inhalte müssen zuvor eine Phase der (Selbst-)Reflexion durchlaufen haben, bevor sie zur Sprache kommen können. Deshalb sind sie immer schon Re-Konstruktionen des Erlebten bzw. der erlebten Bewusstseinsinhalte. Zweites Merkmal ist es, dass sich die Inhalte konsequent aus der Zentralperspektive des Ich aufbauen. Das gilt für die Lyrik in jedem Fall, aber genauso für wissenschaftliche Texte, selbst wenn sich hier das „Ich“ häufig hinter einer sehr distanzierenden und gewundenen Formulierung wie „der Autor dieser Zeilen“ oder einfach nur „der Autor“ zu verbergen sucht. Aber unabhängig, ob sich der Urheber in seinen Texten selbst zu erkennen gibt oder nicht – er ist immer anwesend. Deutlich wird dies an den hinweisenden (den so genannten deiktischen) Begriffen, die jeden Text zuverlässig durchwirken und das Ich räumlich, zeitlich und/oder in Bezug zu anderen Personen festlegt. Die Sprachwissenschaft unterscheidet also fein säuberlich zwischen:
- orts-deiktischen Begriffen: hier, da, dieses, dort, jenes, über, hinter etc.,
- zeit-deiktischen Begriffen: vorhin, neulich, jetzt, später, morgen, bald etc. sowie
- personen-deiktischen Begriffen: ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie.
Begriffe, die wie kleine, unscheinbare Sprachpartikel wirken, mit denen ich aber in Wirklichkeit um mich herum eine ganze Welt aufbaue und mich in ihr verorte.