Der amerikanische Kognitionspsychologe Donald D. Hoffman beschreibt in seinem Buch „Relativ real“ das traurige Liebesleben des Prachtkäfers in Zeiten der zunehmenden Umweltverschmutzung: „Männliche Prachtkäfer, Julodimorpha bakewelli, haben etwas übrig für schöne Weibchen. Die Männchen fliegen umher auf der Suche nach den Weibchen, die glänzend, geriffelt und braun sind. In jüngster Zeit sind männliche Primaten der Art Homo sapiens trinkend durch die Heimat der Käfer in Westaustralien gefahren und haben den Outback mit leeren Bierflaschen, „Stubbies“ genannt, vollgemüllt. Zufällig waren einige dieser Stubbies glänzend, geriffelt und genau in der richtigen Braunschattierung und erregten somit die Aufmerksamkeit der männlichen Prachtkäfer. Da sie die Flaschen für echte Weibchen hielten, schwärmten die männlichen Käfer mit ausgefahrenen Genitalien über die Stubbies und versuchten trotz glasklarem Widerstand beharrlich, sich zu paaren. Zum Unglück kommt nun auch noch Pech hinzu, denn die Ameisen der Art Iridomyrmex discors hatten gelernt, sich in der Nähe der leeren Bierflaschen aufzuhalten, dort auf die benebelten … Käfer zu warten, um sie dann … zu vernaschen. Den armen Käfern drohte das Aussterben, und Australien musste seine Bierflaschen verändern, um seine Käfer zu retten“. Man könnte vermuten, dass der Prachtkäfer genau weiß, wie seine potenziellen Sexualpartnerinnen beschaffen sind. Aber weit gefehlt: Drei Merkmale eines Musters genügen, um die Sinne unseres kleines Freundes in die Irre zu leiten.
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So etwas könnte uns nicht passieren, denken wir im Straßencafé sitzend und beobachten hierbei jenen Mann, der wie gebannt einer ebenso jungen wie schlanken Frau hinterhersieht, die ihr langes Haar dem freien Spiel des Windes überlässt. Wie: Auch wir Menschen wären nichts anderes als Prachtkäfer, die die Objekte unserer Begierde anhand nur weniger Merkmale erkennen? Nun … sicherlich fallen wir nicht gleich blindlings über achtlos weggeworfene Stubbies her. Aber dennoch lassen wir uns mit Hilfe sehr einfach gestrickter Muster in unserer Wahrnehmung lenken. Anders wäre es nicht zu erklären, warum wir auf den Schönheitswettbewerben dieser Welt ein Ideal zelebrieren, das die dort zur Schau gestellten Damen darauf verpflichtet, alle Unterschiede zu nivellieren und sich wie ein Ei dem anderen zu gleichen. Auch wäre – anderes Beispiel – nicht nachvollziehbar, warum wir in den Strichzeichnungen steinzeitlicher Höhlenmalereien ohne großes Nachdenken Menschen und Stiere erkennen. Ja, die gesamte Kunstgeschichte wäre nicht denkbar ohne unser Vermögen der Mustererkennung. Das ist der Grund, warum uns jenes Gemälde René Magrittes erhebliche Kopfzerbrechen bereitet, das die gemalte Abbildung einer Pfeife zeigt, die mit dem Text versehen ist „Ceci n´est pas une pipe.“ („Das ist keine Pfeife“). Warum um alles in der Welt soll das keine Pfeife sein? rufen wir entnervt aus und suchen das Bild verzweifelt nach versteckten Hinweisen ab, die das Abgebildete letztendlich doch als etwas vollkommen anderes erweisen als eben eine Pfeife. Vergebene Liebesmüh´, denn diese Hinweise gibt es nicht. Magritte will eigentlich nicht mehr (und nicht weniger) zeigen, als dass die Abbildung einer Pfeife nicht identisch mit der Pfeife selbst ist. Ziemlich banal eigentlich, und dennoch zeigen die Schwierigkeiten, die wir mit dem Gemälde haben, dass wir das Muster in einem gewissen Grade für die Realität halten, unabhängig ob es sich im Original ausdrückt oder in dessen Abbildung. Und so sagen wir auch weiterhin über die Abbildung einer Pfeife, dass es sich hierbei um ein Pfeife handelt, und halten jeden Menschen für einen kleinlichen Dummbeutel, der penibelst das Original vom Abgebildeten getrennt wissen möchte. Sehr surreal, das Ganze.
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Die Wahrnehmung der Welt mittels Mustererkennung hat einen einfachen Grund. Muster geben uns Informationen über die Welt, die gerade hinreichend sind, um unsere Fitness zu verbessern, ohne ein Übermaß an Energie zu verschwenden. Würden wir die Welt in einem holistischen, über die Wahrnehmung der Muster hinausreichenden Sinne wahrnehmen, würde dies einen Mehraufwand an Energie erfordern, die die Chancen im Überlebenskampf nicht verbessern, sondern eher verschlechtern würden. Schon jetzt ist unser Gehirn ein wahrer Energiefresser, es verbraucht rund 25 % unserer Körperenergie. Unsere Wahrnehmung wird also geprägt durch einen ziemlich genau austarierten Kompromiss aus Informationsdichte und Energieeinsatz. Und das ist der tiefere Grund dafür, warum wir immer nur das Muster – das „Konzept“! – eines Dinges in den Fokus rücken. Wenn eine Tasse zwischen zwei Beobachtern auf einem Tisch steht, dann befindet sich der Henkel für die eine Person beispielsweise auf der linken Seite, für die andere Person auf der rechten Seite. Dennoch gäbe es für beide Seiten keinen Dissens darüber, dass es sich um eine Tasse handelt. Denn das Konzept, das beide übereinstimmend im Kopf haben, lautet: eine Tasse ist ein Trinkgefäß mit Henkel, unabhängig, in welche Richtung dieser gerade zeigt. Und auch in der Erinnerung werden beide übereinstimmend sagen: Ja sicher, auf dem Tisch stand eine Tasse. Das reicht als Aussage. Nun lässt sich eine Tasse jedoch noch durch viele weitere Eigenschaften charakterisieren: durch Farbe, Form, Größe, Musterung, Reliefierung, (gefühltes) Gewicht und vieles andere mehr. Und da wird die Erinnerung mit einem Male ziemlich trübe mit dem Ergebnis, dass sich die beiden Beobachter über die Details der Tasse am Ende durchaus doch noch in die Haare geraten können.
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Wie automatisiert unsere Wahrnehmung und Kategorisierung der Dinge abläuft, hat der amerikanische Professor für Psychiatrie Arthur Deikman eindrucksvoll gezeigt. Bereits in den 1960er Jahren gab er Probanden im Rahmen eines aufsehenerregenden Experiments die Aufgabe, sich über einen Zeitraum von mehreren Sitzungen eine blaue Vase anzuschauen. Nicht mehr und nicht weniger. Nach einigen Sitzungen beschrieben die Versuchspersonen die blaue Vase „als lebendiger, reicher, leuchtender, sie schien fast ein Eigenleben zu entwickeln; und manche Teilnehmer fühlten sich plötzlich auf eine seltsame Art mit diesem Objekt verbunden.“ Deikman folgerte daraus, dass bei der Vasenmeditation eine Umkehrung der kindlichen Lernentwicklung stattfindet. Im Rahmen dieses Prozesses lernen Kinder, die Dinge in automatisierter Weise einzuordnen. Der Nutzen ist immens: „je schneller wir ein Objekt kategorisieren, umso eher wird Aufmerksamkeit für andere Denkprozesse frei.“ Im Rahmen seines Experiments nun der gegenläufige Prozess: „Indem man ein Objekt aufmerksam und voraussetzungslos betrachtet und alle abstrahierenden Gedanken unterdrückt, wird der Prozess der automatisierten Kategorisierung umgekehrt. Sinneseindrücke treten stärker ins Bewusstsein, man hat den Eindruck, dass Grenzen verschwimmen. Und diese Rückkehr zur ursprünglichen kindlichen Wahrnehmung bezeichnet der Psychiater als ´Deautomatisierung´“. Edmund Husserls phänomenologischer Imperativ „zu den Dingen selbst“ – im Rahmen dieser Sitzungen wurde er Realität.
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Es wird deutlich: Wir wollen uns mit der Betrachtung der Dinge eigentlich gar nicht so lange aufhalten. Energietechnisch macht das ebenso Sinn wie überlebenstechnisch: Eine ausgedehnte Vasenmeditation in freier Wildbahn könnte nämlich ziemlich nach hinten losgehen. Und auch sprachlich lassen wir Fünfe grade sein. Wenn eine Tasse in ihrem Konzept klar ist, warum nennen wir dann ein Trinkgefäß mit Henkel, das aus Glas besteht, nicht selten auch Glas statt Tasse? Ein Trinkgefäß wiederum aus Ton ohne Henkel nennen wir zuweilen Becher, bleiben zuweilen aber auch bei der Tasse. Und was hat es mit jenem Gefäß auf sich, das zwei Henkel hat, aus dem wir ausschließlich zu löffeln pflegen, Suppe zum Beispiel? Auch eine Schnabeltasse heißt Schnabeltasse, selbst wenn sie wie ein Becher aussieht. Ein besonders schwieriger Fall ist die Untertasse. Handelt es sich hierbei um eine Spezifizierung der Tasse, verhält sie sich also zu dieser wie die Unterhose zur Hose? Wohl nicht, denn eine Untertasse ist kein Trinkgefäß und verfügt auch nicht über einen Henkel. Oder handelt es sich hierbei um eine Art präpositionaler Bestimmung im Sinne von „ein Ding unterhalb der Tasse“ und hat dann Ähnlichkeit mit einer Begriffsbildung wie „Nachtisch“? Die Linguisten neigen dieser Meinung zu. Denn sowenig es sich hierbei um einen Tisch handelt, sowenig ist eine Untertasse als Tasse aufzufassen. (Während ein Unterteller wiederum ein Teller ist). Doch dann stellt sich die Frage: Was wiederum ist dann eine Obertasse? Ist sie ebenfalls eine präpositionale Bestimmung als „Ding oberhalb der Untertasse“? Mitnichten, denn dann müsste sie konsequenterweise Oberuntertasse heißen. Die Obertasse ist also offensichtlich als Komplementärbegriff zur Untertasse entstanden, mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Obertasse eine Tasse ist, die Untertasse aber nicht. Bevor also die Tasse zur näheren Bestimmung „Obertasse“ gelangen konnte, musste der Mensch zunächst den Umweg über die Untertasse nehmen, die aber keine Tasse ist …
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Sie sehen: Die Sprache selbst hat nicht alle Tassen im Schrank. Dies hat auch Ludwig Wittgenstein an einem berühmten Beispiel erläutert: „Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir »Spiele« nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: »Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ›Spiele‹ « – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – Schau z.B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. – Sind sie alle ›unterhaltend‹. Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlieren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, so ist dieser Zug verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. Und wie verschieden ist Geschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. Denk nun an die Reigenspiele: Hier ist das Element der Unterhaltung, aber wie viele der anderen Charakterzüge sind verschwunden! Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen. Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen. Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.“
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Sobald man in puncto Sprache etwas tiefer zu bohren beginnt, trifft man auf Ungenauigkeiten, Inkohärenzen und Widersprüche. Das hat damit zu tun, dass Sprache historisch gewachsen und deshalb von Natur aus krummes Holz ist. Das Faszinierende: Die Sprache funktioniert in unserem Lebensalltag dennoch bestens und vermittelt uns das Gefühl, in einer klaren und transparenten Welt zu leben. In der Wissenschaft sieht es ganz anders aus. Hier achten die Akteure besonders stark auf möglichst trennscharfe Begriffe, allerdings mit dem Ergebnis, dass die Welt immer undurchsichtiger und diffuser wird. Der US-amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond wollte es einmal ganz genau wissen und hat festgestellt, dass es für den vermeintlich doch so einfachen und klaren Begriff „Religion“ sage und schreibe 16 Definitionen gibt, die zum Teil stark voneinander abweichen und sich zuweilen sogar widersprechen. Eine ähnliche Erfahrung musste der Altphilologie-Professor Axel Horstmann im Zusammenhang mit dem Begriff „Mythos“ machen. Er stellte fest, dass sich die inhaltliche Bestimmung dieses Begriffs immer dann veränderte, sobald er in Zusammenhang mit anderen Begriffen erschien, wie z. B. in den Oppositionen Mythos und Logos, Mythos und Geschichte, Mythos und Dichtung, Mythos und Kunst, Mythos und Musik etc. Die inhaltliche Bestimmung des Begriffs wandelte sich also im Lichte des Kontextes, in dem der Begriff „Mythos“ erschien. Damit bestätigt Horstmann eine andere wichtige Erkenntnis Wittgensteins, nach der Wörter ihre Bedeutung durch den jeweiligen Gebrauch der Sprache erhalten. Die Bedeutung des Satzes etwa, ob ich alle Tassen im Schrank habe, ist nicht von vorneherein klar, sondern hängt von der konkreten Kommunikationssituation ab, nämlich ob der Sprecher dieses Satzes sich in meiner Küche orientieren will oder mein momentan absurdes Verhalten bewerten möchte.