Die „Skulptur Projekte“, die alle 10 Jahre in Münster stattfinden, werfen ihre Schatten voraus. Immer mehr international renommierte Künstler kommen in die Stadt und entwickeln erste Ideen für ihren Beitrag. Vor 40 Jahren noch durchaus Hassobjekt für den einen oder anderen radikalen Bilderstürmer, hat sich die Ausstellung zu einem internationalen Ereignis mit hoher Anziehungskraft gemausert. Warum konnte gerade Münster, das beschauliche Münster, zum Austragungsort eines Events aufsteigen, der mit der Documenta in einem Zug genannt wird? Ganz einfach: Weil wir Münsterländer – gewissermaßen qua Geburt – allesamt große Künstler und Poeten sind. Diesen Schluss legt zumindest eine Passage des Reiseberichts „Das malerische und romantische Westphalen“ nahe, den Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking gemeinsam verfasst hatten.
Der Gedankengang ist etwa folgender: Das Münsterland war seit jeher unwirtlich und abgeschieden. Eine Welt, die sich immer gleich blieb. Jeden Tag dieselbe mühevolle Arbeit, jeden Tag dieselbe reizarme Naturkulisse. Der Geist hat keine Chance, sich an die Oberfläche der Dinge zu heften. Die „todte Natur drängt die Gedanken des Menschen in seine eigne innere lebendigere Schöpfung“, sie führt „ihn in die Tiefe, wo des Wunderbaren so viel liegt“. Das Ergebnis ist eine „Weltanschauung, deren Centrum der liebe Gott“ ist, der uns besonders nahe ist, „keine Viertelstunde über den rothglühenden Wolken der Abendsonne“. Es handelt sich um eine „Art von stiller entsagungsvoller Poesie“, die sich überall niederschlägt: in den Institutionen, den Gesetzen, den Sitten und nicht zuletzt auch in der Kunst.
Gerade die frühesten künstlerischen Werke der westfälisch gewordenen Münsterländer machen dieser Aussage alle Ehre. Was immer ihr Schaffensdrang ihnen in den Sinn gab – immer entstehen Artefakte für die kirchliche Liturgie: Kelche, Leuchter, Kreuze, Buchdeckel, Altäre, Teppiche, Wandgemälde, vor allem aber Reliquiare. Tatsächlich richtete sich das Interesse wie besessen besonders auf alles, was zur Aufbewahrung von Dingen dienen konnte, die von Heiligen stammten oder mit ihnen in Berührung gekommen waren. Und so entstand bald ein ganzer Kosmos unterschiedlichster Reliquiar-Typen: Bursen, Kreuze, Figuren, Kästen und Schreine.
Die Frage ist: Warum nur dieses manische Haschen nach den irdischen Überbleibseln der Heiligen? Vielleicht, weil der Heiligste unter den Heiligen – Jesus – uns zu jener Zeit Lichtjahre entfernt erschien? Fast will es mir so erscheinen. Auf bildlichen Darstellungen der Romanik thront er weit über unserem irdischen Jammertal. Eingefasst von einer mandelförmigen Aura geht er ganz in seiner Rolle als Weltenherrscher auf – so zu sehen auf dem Codex Aureus des Stifts Freckenhorst etwa 30 km östlich von Münster. Kein Wunder, dass ihn in dieser Entrücktheit auch der irdische Schmerz nicht erreicht. Kreuzesdarstellungen, wie etwa das Erphokreuz der Stiftskirche St. Mauritz, stellen den Gottessohn ziemlich entspannt dar – Martyrium und Tod durch eine nicht zu übersehende Lässigkeit trotzend. Always look on the bright side of life …
Das sollte sich allmählich ändern. In der Gotik steigt Jesus vom Firmament herab zu uns und wird Mensch. Unser Leiden ist jetzt auch sein Leiden. Abgemagert, mit schmerzverzerrtem Gesicht und in erbarmungswürdiger Haltung hängt er etwa am Gabelkreuz von St. Lamberti zu Coesfeld und übernimmt nun die Funktion, das Mitleiden des Betrachters zu provozieren. Dasselbe abgrundtiefe Leid springt uns aus den zahlreichen Vesperbildern unseres Landstrichs entgegen. Ebenso aus den Tafelbildern, die seit dem 12. Jahrhundert vornehmlich auf den Aufbauten der Altarrückseite realisiert wurden und sich bis zum 15. Jahrhundert zu wahrer Blüte entwickelten.
Lange Lanzen durchbohren den Leib Christi. Doch etwas irritiert beim Betrachten dieser Gemälde: Die biblischen Geschichten des Altertums ereignen sich im mittelalterlichen Hier und Jetzt. Die Menschen am Kalvarienberg sind wie Zeitgenossen des Malers gewandet, Maria bewegt sich in gotischer Architektur, viele szenische Details stellen Alltagssituationen des ausgehenden Mittelalters dar. Ganz offensichtlich erhielt die irdische Gegenwart einen Eigenwert und wurde „kunstwürdig“. Damit stand die münsterländische Kunst an der Schwelle zu einer Kunstauffassung, die sich Inhalte und formale Gestaltung von niemandem mehr bestimmen lassen wollte. Den entscheidenden Schritt in die Autonomie der Kunst tat der Bocholter Freund und Kupferstecher Israhel van Meckenem (d. J.), der in einer Abfolge von 12 Blättern das Alltagsleben seiner Zeitgenossen festhielt. Die Renaissance hielt Einzug ins Münsterland.
Nun war alles möglich. Nun konnte ein Künstler wie Hermann tom Ring an einem Tag sich den Themen des Jenseits widmen, am anderen in die Details eines durch und durch diesseitigen Halsschmuckes vertiefen. Nun wurde der leibhaftige Gottseibeiuns, der Wiedertäufer Jan van Leyden, ebenso porträtfähig wie der knollennasige Stararchitekt Conrad von Schlaun. Nun konnte das liebreizende Antlitz der Bürgerlichen Katharina Schücking ebenso malerisch eingefangen werden wie die eher herbe Schönheit einer Adeligen namens Annette von Droste-Hülshoff. Und nicht zuletzt konnte ein Objekt wie die öffentliche Bedürfnisanstalt am Domplatz zu Münster ein Gegenstand künstlerischen Gestaltungswillens werden. Bekanntlich hat der Künstler Hans-Peter Feldmann diesen bis dato unangenehmen Lokus für die skulptur projekte 2007 in einen locus amoenus – einen angenehmen Ort – verwandelt, womit sich der Kreis schließt.
Warum also Münster? Warum das beschauliche Münster als Austragungsort eines international ausstrahlenden Kunstevents? Ganz einfach: Weil wirs können!