Es war einfach unfassbar: In Zeiten des anschwellenden Jugendkults waren es ein paar alte Opas, die die Blicke einer zunehmend hipper werdenden Musikwelt auf sich zu lenken vermochten – Altmeister der kubanischen Musik wie Ibrahim Ferrer, Compay Segundo, Ruben Gonzales und andere, deren große Zeit bereits über 40 Jahre zurücklag. Mitte der 1990er Jahre fanden sie sich unter dem Label Buena Vista Social Club zusammen, um die traditionelle – ach, was sage ich da? – die abgrundtief altmodische Salsa-Musik zu zelebrieren. Geburtshelfer des weltweiten Erfolgs waren der amerikanische Gitarrist Ry Cooder, der dieses Projekt initiierte, und der deutsche Filmemacher Wim Wenders, der einen Dokumentarfilm darüber machte. Seitdem gehören die enervierend unaufdringlichen Rhythmen, begleitet von den gebrochenen Stimmen alternder Männer, zum kulturellen Gedächtnis der ganzen Welt.
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Und auch der Salsa-Tanz findet immer mehr Anhänger. In den wie aus dem Boden sprießenden Salsa-Schulen lernen immer neue Generationen an Neu-Kubanern den Dile que no, den Sombrero, den Agua guer, den Sententa Complicada und viele Tanzfiguren mehr. Hört sich kompliziert an, ist auch so – zumindest für einen handelsüblichen Mitteleuropäer. Denn für ihn sind diese Figuren und ihre Abfolgen absolutes Neuland, weil sie nicht zu seiner kulturellen Grundausstattung gehören. Das ist der Grund, warum er sich bei den ersten – und vielen weiteren – Schritten besonders schwer tut. Aber wie wir wissen, ist überall, wo ein Wille ist, auch ein Weg. Zuerst lernst Du den Basico, den – wie der Name vermuten lässt – Grundschritt des Salsa-Tanzes. Danach kommt der Latino an die Reihe, die erste Abwandlung des Basico. Eine weitere Steigerung ist der Guapeo. Dann folgt … Ja, es ist halt so wie im richtigen Leben: Mühsam, ganz mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.
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Irritierend hierbei: Für den Lernerfolg ist ein Vorgang von entscheidender Bedeutung, der mit dem Tanzen selber nichts zu tun hat, aber zur Grundtätigkeit des Menschen gehört, seit er zu sprechen gelernt hat: die Benennung jeder Tanzfigur mit einem gesonderten Namen. Tatsächlich ist Salsa lernen wie Vokabel lernen. Die variantenreichen, ineinander fließenden Tanzabfolgen in distinkte Pakete zu unterteilen und diese mit einem Namen zu belegen, entspricht offenbar den besonderen Anforderungen unseres Gehirns. Dieses dankt es Dir auf seine Art und zahlt diesen Service mit einer erhöhten Lernleistung zurück. Indes: Was hier auf zwei Rollen – Du hier, Dein Gehirn dort – aufgeteilt ist, wird im Grunde von nur einem Akteur aufgeführt. Denn zumindest im Bereich des Lernens bist Du Dein Gehirn – und umgekehrt. Mit Hilfe dieser Selbstorganisation schafft es das System Gehirn, Herr über ein außer ihm liegendes System zu werden. Zum Beispiel Salsa.
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Sich in ein neues System einzuarbeiten, ist also echt nicht einfach. Dies umso weniger, je geringer die Berührungspunkte mit Deiner Kultur sind. Aber dank unseres Gehirns machen wir beim Salsa-Tanzen wie in jeder anderen Disziplin die Angela: Wir schaffen das! Und das Tolle: Irgendwann kommt der Punkt, in dem Du in einen Flow kommst. Irgendwann merkst Du, dass Du Dich von den Anfängen löst und die bereits erlernten Figuren frei miteinander kombinieren beginnst. Ja, irgendwann gewinnst Du das Gefühl von – obacht, großes Wort! – Freiheit. Und: Je mehr Figuren Du frei miteinander zu verbinden verstehst, desto freier fühlst Du Dich – immer freier von den Zwängen des Systems. Doch das ist ein Trugschluss. Denn je virtuoser Du mit den Vorgaben umzugehen verstehst, desto mehr verwächst Du mit ihnen. Es ist wirklich paradox: Das zunehmende Freiheitsgefühl korrespondiert mit einer immer perfekteren Einpassung in das gegebene System. Je freier du dich wähnst, desto unfreier wirst Du.
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Sie glauben mir nicht? Dann nur soviel: Wer mit einem Apple umzugehen gelernt hat, ist für einen Windows-Rechner verdorben – und umgekehrt. Im selben Maße, in dem Du ein System zu beherrschen glaubst, beherrscht es Dich. Der Philosoph David Hume hat einmal die Frage gestellt, wer zwanghafter ist: der verhaltensauffällige „Psycho“ oder der Normale. Die Antwort: Der Normale, denn er ist es, der sich immer in den erwartbaren Bahnen bewegt. Er hat das soziale System – die Ge- und Verbote – so gründlich internalisiert, dass er nicht mehr überraschen kann. Wir „Normalen“ reproduzieren also Tag für Tag das soziale System, in dem wir leben. Übertragen auf die Muttersprache heißt das: So sehr wir auch glauben, dass wir im Sprechen unsere ureigensten Gedanken ausdrücken, so sehr reproduzieren wir das Sprachsystem, in das wir von Anfang an hineingeboren sind. An sich ist das ja auch gar nichts Schlimmes. Ein System, das einer möglichst reibungslosen Kommunikation dient, erfordert Akteure, die in Hinblick auf das System gleichgeschaltet sind.
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Aber gerade dieser Vorteil wird für alle zum Problem, die originär Neues zu beschreiben wünschen. Hierzu gehören naturgemäß vor allem die Dichter. Lauschen wir vor diesem Hintergrund das Lamento eines der ganz frühen Wortkünstler der Menschheit:
„Hätte ich doch unbekannte Reden, fremdartige Sprüche, neue Worte, noch nie gebraucht und frei von Wiederholungen, nicht die Sprüche der Vergangenheit, welche die Vorfahren schon brauchten! Ich presse meinen Leib aus von dem, was er hält, ich siebe alle meine Worte; denn Wiederholung ist alles, was man sagt, und alles Gesagte ist (schon einmal) gesagt. Die Worte der Vorfahren sind nichts zum Rühmen, wenn die, die später kommen, sie wiederverwenden. Der soll nicht sprechen, der (schon) gesprochen hat, (sondern) der soll sprechen, der etwas zu sagen hat. Ein anderer soll herausfinden, was zu sagen ist, kein bloßes Nachschwätzen von Worten, wie man es immer schon tat!“
Diese Klage stammt aus dem 19. vorchristlichen Jahrhundert, niedergeschrieben von Cha-cheper-Re-seneb, der sie unter der Sonne Ägypten ersann.
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Wenn wir kommunizieren, kommunizieren wir in deutlich ausgelatschten Pfaden, will er uns wohl sagen. Ein eindrucksvoller Hinweis darauf, wie sehr Sprache unser Denken bestimmt.