Alles WYSIWYG oder was?

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Der einzige Bereich, in dem wir die konstruktive Leistung des Menschen bei der Wahrnehmung der Welt einigermaßen akzeptieren, ist der der Farben. Denn schon in der Schule lernen wir, dass unser Gehirn aus einer großen Bandbreite elektromagnetischer Strahlen nur ein sehr enges Segment in eine Farbwahrnehmung zu überführen vermag. Eine sinnesphysiologische Simulation, die einen so empfindsamen Geist wie Heinrich von Kleist noch so richtig aus der Bahn werfen konnte. So schrieb er am 22. März 1801 an seine Verlobte: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint“. Diese offenbar aufschreckenden Schlüsse zog Kleist aus seiner Kant-Lektüre und machten ihn geradezu kirre: „Seit diese Überzeugung, nämlich, daß hinieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt. Ich bin untätig in meinem Zimmer umhergegangen, ich habe mich an das offne Fenster gesetzt, ich bin hinausgelaufen ins Freie, eine innerliche Unruhe trieb mich zuletzt in Tabagien und Kaffeehäuser, ich habe Schauspiele und Konzerte besucht, um mich zu zerstreuen …; und dennoch war der einzige Gedanke, den meine Seele in diesem äußeren Tumulte mit glühender Angst bearbeitete, immer nur dieser: dein einziges, dein höchstes Ziel ist gesunken.“

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Was den armen Poeten Kleist noch an den Rand des Wahnsinns treiben konnte, ruft bei uns Heutigen nicht mehr als ein Achselzucken hervor. „Was solls, dann sehen wir halt dasselbe in grün!“, rufen wir aus und sind felsenfest davon überzeugt, dass wir ansonsten die Welt so sehen, wie sie objektiv ist. WYSIWYG lautet unsere Parole: What you see is what you get. Wirklich? Zumindest bei einem anderen Sinneskanal sind wir uns da nicht so sicher: dem Geruchssinn. Auch olfaktorische Wahrnehmungen sind Ergebnis einer sinnesphysiologischen Interpretation – nämlich einer Interpretation von eigentlich „geruchssfreien“ Molekülen in der Atemluft. Steigen uns die Aromen in die Nase, reagieren wir unmittelbar: Der Duft frischen Obstes zieht uns an, der Odeur faulender Biomasse treibt uns die Flucht. Bei unserem Geschmackssinn dasselbe Spiel: einen bittere Note führt zu Abwehrreaktionen, eine süße macht Lust auf mehr. Und in eben dieser Weise gibt uns auch der Gesichtssinn wertvolle Fitness-Hinweise durch die Kombination aus Farbe, Form und Oberflächentextur. Damit liegt die Funktion solcher Simulationen auf der Hand: Sie führen uns unter Umgehung langwieriger Entscheidungsprozesse zielsicher weg von dem, was uns schadet, und hin zu dem, was uns gut tut. Sie sind wie ein unbewusstes inneres Wegeleitsystem im Rahmen unseren angeborenen Annäherungs- und Vermeidungssystems. Dieser Sachverhalt zeigt erneut, dass die Dinge der Welt „da draußen“ nicht so inert sind, wie wir immer behaupten, sondern in eine Wechselwirkung mit uns treten und auf unser Erleben und Handeln unmittelbar einwirken. Die konstruktive Leistung unserer Wahrnehmung ist geradezu darauf ausgelegt, die Zeichen der äußeren Welt auf ihren Fitness-Wert „für uns“ abzusuchen und uns unter Umgehung bewusster Willensentschlüsse zu Handlungen zu veranlassen, die unserer homöostatischen Balance förderlich sind.

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Eine zentrale Funktion erfüllen hierbei unsere Gefühle, die ihren „Sitz“ im so genannten limbischen System haben. Hierbei handelt es sich um eine kleine Gruppe von Strukturen innerhalb unseres Gehirns, die unsere Wahrnehmungen untrennbar mit emotionalem Gehalt aufladen, bevor sie sie in nachgeschaltete Gehirnareale weiterleiten. Die Gefühle sind deshalb immer am Werke, analysieren quasi online die jeweils aktuelle Situation in ihrer Auswirkung für das Gesamtsystem und funken ihre Auswertungen unmittelbar ans Bewusstsein: „Unser subjektives emotionales Erleben verändert sich ständig, weil unser Gehirn die Chancen und Risiken eines wandelbaren sozialen Umfeldes überwacht und uns signalisiert, mit welchen Reaktionen wir sie am besten bewältigen“, so Eric Kandel. Unser Set an Gefühlsqualitäten ist also alles andere als ein überflüssiger Kropf, den man besser heute als morgen über Bord werfen sollte. Im Gegenteil, die Gefühle sind überlebenswichtig, weil sie Gefahren und Chancen in Signale übersetzen, die wir leicht und unmittelbar verstehen. Zudem sind Gefühle essenziell notwendig für unser Empfinden des In-der-Welt-Seins, wie Martin Heidegger es ausdrücken würde. Ohne Gefühle hätten wir keinen inneren Anteil an der Welt, so Antonio Damasio. Die Wahrnehmungen würden „ohne Affekte und ohne Einschränkung durch den Geist wandern. Wäre das Gefühl beseitigt, wären wir nicht mehr in der Lage, Bilder als schön oder hässlich einzustufen, als angenehm oder schmerzlich, geschmackvoll oder vulgär, spirituell oder erdverbunden“. Erst die Gefühle versetzen uns in die Lage, die Dinge zu bewerten und Urteile über sie zu fällen. Und weiter: „Unter normalen Bedingungen gibt es kein Sein im eigentlichen Sinn des Wortes ohne das spontane, mentale Erlebnis des Lebens, ein Gefühl der Existenz. Der Ausgangspunkt des Seins entspricht einem scheinbar kontinuierlichen, endlosen Gefühlszustand, einem mehr oder weniger lauten mentalen Chor, der alle mentalen Vorgänge untermalt.“ Anders gewendet: „Das vollständige Fehlen von Gefühlen wäre eine Aufhebung des Seins.“

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Die heftige Reaktion des Heinrich von Kleist auf seine Lektüre der Kantischen Philosophie zeigt eindrucksvoll, dass seine Suche nach objektiver Wahrheit in Wirklichkeit einem hochgradig subjektiv empfundenen, emotionalen Bedürfnis entspringt. Sicher: Das Leiden des jungen Dichters ist nicht schön, aber Kleist ist damit immer noch besser bedient als jener Mensch namens Elliot, dem eines Tages infolge einer Gehirn-OP die Gefühle abhanden gekommen sind. Hören wir Eric Kandel, der den Fall, den er in Damasios Buch „Descartes Irrtum“ gefunden hat, wie folgt zusammenfasst: „Vor der Operation war Elliot ein vorbildlicher Vater und Ehemann gewesen. Er bekleidete eine wichtige Stellung im Management eines Unternehmens und war in seiner lokalen Kirche aktiv. Nach dem Eingriff war Elliots IQ immer noch der gleiche – sein Testergebnis war besser als bei 97 Prozent der Bevölkerung -, aber in seiner Entscheidungsfindung ließ er jetzt große Schwächen erkennen. Er traf eine Reihe unverantwortlicher Entscheidungen und gründete mehrere Unternehmen, die sehr schnell scheiterten. Dann ließ er sich mit einem Betrüger ein und war gezwungen, Insolvenz anzumelden. Seine Frau ließ sich von ihm scheiden. Die Steuerfahndung ermittelte gegen ihn. Am Ende musste er zu seinen Eltern ziehen. Außerdem wurde Elliot sehr unentschlossen, insbesondere wenn es um Kleinigkeiten ging, beispielsweise darum, wo er zu Mittag essen wollte oder welchen Radiosender er einschalten sollte.“ Und das alles, weil dem armen Elliot, wie Damasio durch unterschiedliche Tests nachweisen konnte, mit seinem Tumor auch seine Emotionen verloren hatte. Elliot sieht dieselben Dinge wie wir Normalsterblichen, und doch nimmt er sie mit einem Male vollkommen anders wahr und trifft auf dieser Grundlage andere Entscheidungen. Von wegen WYSIWYG …

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Gefühle gehören also zum Kern dessen, was wir Conditio Humana nennen. Sie sind bereits Grundlage der vorsprachlichen Kommunikation unserer Vorfahren und grundieren damit auch die menschliche Sprache. Das sehen wir nicht nur an den vielen Adjektiven und Adverbien, die der Sprache ihre Farbigkeit zu verleihen. Allein sich der Sprache zu bedienen, ist emotional motiviert. Im gesellschaftlichen Plausch auf einer Party ermittle ich meinen soziale Position. Hinter dem Verfassen eines Gedichts steht der Wille zum Selbstausdruck. Im Tratsch über andere vergewissere ich mich der Richtigkeit meiner sozialen Standards und Überzeugungen. Jemandem anderen ein „Geheimnis“ mitzuteilen, geschieht in der Hoffnung, dass mich mein Gegenüber in reziproker Weise an seinen „Geheimnissen“ teilhaben lässt. Mit der Mitteilung, Leonardo di Caprio gesehen zu haben, erhoffe ich, dass etwas Glanz des Hollywood-Stars auch auf mich abstrahlt. Meine Meinung im Rahmen einer politischen Debatte einzubringen, entspringt meiner felsenfesten Überzeugung, dass sie wichtig ist. Der fachliche Austausch im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit geschieht, weil ich eine mir aufgetragene Aufgabe lösen will. Einen Stuhl zu erkennen und ihn als solchen zu benennen, drückt mein Interesse an diesem Stuhl aus. Das unentwegte Produzieren von (natur-)wissenschaftlichen Antworten ist dem Umstand geschuldet, dass die intentionale Struktur des menschlichen Geistes offene Fragen nicht akzeptieren kann. Und nicht zuletzt dienen die vermeintlich ebenso sachbezogenen wie emotionslosen Sprachspiele im Rahmen der Grundlagenforschung nicht selten unserer größten bis dato ungestillten Sehnsucht überhaupt: das „Geheimnis Mensch“ zu enträtseln und seine Stellung im Kosmos ein für alle Mal zu begründen.