Als Münsteraner hat man ja so seine ganz eigene Kategorie, die Welt wahrzunehmen. So sperren wir eigentlich nur dann die Lauscher auf, wenn irgendwas und irgendwer mit dem Namen Münster verbunden ist. Sendungen mit „waschechten“ Eingeborenen wie Günther Jauch oder Götz Alsmann gehören deshalb ebenso zu unserem Pflichtprogramm wie der Münster-Tatort oder Wilsberg. Und wenn Axel Prahl, Jan Josef Liefers oder Leonard Lansing, die ja sozusagen handstreichartig von uns adoptiert worden sind, fremdgehen und in Filmen mitspielen, die nichts mit Münster zu tun haben, so schauen wir auch die. Die Grundkategorie unserer Wahrnehmung lautet also Münster, alles andere filtern wir aus, bevor es unser Bewusstsein erreicht;) … Deshalb erinnere ich auch die kürzlich im ZDF gelaufene Wiederholung eines Films aus dem Jahre 2010 noch so gut. Dort spielte Lansing einen frühpensionierten Lehrer, der sich eigentlich über alles aufregte. Ein Wutbürger der ersten Stunde. Trug jemand ein Tattoo, fiel ihm die Frage ein, ob dies ein „Zellengenosse“ gestochen habe. Fing jemand zu schwitzen an, kam ihm keine andere Assoziation als „Entzugserscheinungen“ in den Sinn. Und als er auf einen seiner ehemaligen Schüler, einen Handwerker, traf, eröffnete er das Gespräch mit: „Wusste ja immer schon, dass du es mal weit bringen wirst.“ Abwertungsnarrative ohne Ende. Es wird deutlich: Auch dieser Mann hat seine Grundkategorie, mit der die Welt wahrnimmt. Seine Systemeinstellung ist auf Misanthropie programmiert.
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Die eigenen Schüler so abzumeiern – das käme einem wie Aristoteles nicht in den Sinn. Obwohl er wahrlich Grund genug dafür gehabt hätte. Denn Aristoteles war für kurze Zeit der Lehrer von Alexander zu einem Zeitpunkt, als der sich den Beinamen „der Große“ noch nicht verdient hatte. Und dieser Alexander war – wie man hört und liest – ein überaus anmaßender, rachsüchtiger und grausamer Charakter. Dennoch ist keine negative Äußerung von Aristoteles über seinen ehemaligen Schüler bekannt. Das zeugt von Weitblick. Denn Alexander dem Großen kommt das historische Verdienst zu, die griechische Kultur durch seine raumgreifenden Eroberungen bis tief nach Asien erst überlebensfähig gemacht zu haben. Damit war die Grundlage geschaffen, von der aus die griechische Philosophie immer stärker das abendländische Denken dominieren konnte – zunächst mit Platon als unumschränktem Herrscher in der Welt des Geistes, ab dem 12. Jahrhundert abgelöst durch Aristoteles. Der Mann aus Stageira hat seine Weltkarriere also keinem anderen zu verdanken als seinem eigenen Schüler. Ob er das vorausgeahnt hat? Falls ja, muss man ihm ein wahrlich vorausschauendes Denken attestieren. Chapeau!
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Und so kam es, dass ein Werk aus der Feder des Meisters auf uns kam, das sich mit den Grundbestimmungen unseres Seins auseinandersetzt: den „Kategorien“. Keine Frage: Auch Platon dachte schon in Kategorien. So entsprang für ihn ein Pferd – egal, ob groß oder klein, dick oder dünn, schnell oder langsam, weiß oder schwarz – immer der Kategorie „Pferd“. Nur nannte Platon die Kategorie nicht Kategorie, sondern Idee, die jenseits unserer Wahrnehmung die Dinge hier auf Erden formt und prägt. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Platon entwickelte Aristoteles seine Seins-Philosophie ganz aus der diesseitigen Welt der Erscheinungen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Grundkategorie der Substanz. Die meint alles, was wir für gewöhnlich mit einem Hauptwort belegen: ein Einzelding, ein einzelnes Tier oder eine bestimmte Person. Dies ist für ihn die erste Substanz. Die zweite Substanz erfasst die Gattung, also Tisch oder Hund oder Mensch. Alles andere, was die Substanz näher bestimmt, bezeichnete der alte Grieche als Akzidenz. Damit ist die Rollenverteilung klar verteilt: Die substanzielle Kategorie kann ohne die akzidentielle Kategorie sein, aber nicht umgekehrt. Sokrates steht es frei, einen Bart zu haben oder auch nicht. Dem Bart nicht. Er muss einen Menschen „haben“, um zu „sein“.
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Damit ist die erste akzidentielle Kategorie genannt: Haben – im Sinne von: „er hat einen Bart“ oder „sie hat Schuhe an“.
Weitere Kategorien sind:
– Quantität: ein, zwei,
– Qualität: weiß, kundig,
– Relation: doppelt, halb, größer,
– Ort: auf dem Marktplatz,
– Zeit: gestern, voriges Jahr,
– Lage: sitzen, liegen, stehen,
– Tun: laufen, arbeiten,
– Leiden: wird verleugnet, geschlagen.
Daran ist einiges zu kritisieren. Zum Beispiel, dass die vermeintlich unveränderliche Substanz „Sokrates“ sich durchaus zu wandeln versteht – ganz abhängig davon, ob diese Substanz „Sokrates“ geschlagen oder verachtet wird (Kategorie: Leiden) oder auf einer Chaiselongue liegt (Kategorie: Lage) und einen leckeren Retsina zu sich nimmt (Kategorie: Tun). Mit anderen Worten: Die akzidentiellen Kategorien sind nicht bloße Add-ons, sondern wirken auf das Wesen – sprich: auf die Substanz – zurück, das auf den Namen „Sokrates“ hört.
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Was Aristoteles dabei durchgeht: Das eigentlich Unveränderliche an Sokrates ist nur sein Name, nicht sein Wesen. Aristoteles hat bei der Entwicklung seiner Kategorien ganz stark bei der Sprache abgeguckt. Seine Kategorien sind sprachliche Kategorien, die er par ordre du mufti zu Seins-Kategorien erklärt. Kurz: Die Kategorien-Schrift ist ein weiteres schönes Beispiel dafür, wie sehr die Sprache das Denken bestimmt – in diesem Falle das Denken des Aristoteles. Ein Kurzschluss, der zu den absurdesten Konsequenzen führt. So hat der Satz „Das Einhorn ist rosa“ absoluten Wahrheitswert, weil es geradezu schulbuchmäßig die substanzielle Kategorie (repräsentiert durch „Einhorn“) mit der akzidentiellen Kategorie (repräsentiert durch „rosa“) verbindet. Alles in allem also sehr schräg, das Ganze. Und dann auch wieder wahr, wenn man die wilden ontologischen Spekulationen einmal kurz beiseite lässt. Denn tatsächlich behandeln wir das irreale „Einhorn“ sprachlich nicht anders als das reale „Auto“. In derselben Weise glauben wir auch die Berechtigung zu haben, in Analogie zum Satz „Die Frau fährt“ den Satz „Das Auto fährt“ zu bilden – so als ob einem seelenlosen Ding eine zielgerichtete Aktivität möglich wäre. Kein Wunder also, dass Wittgenstein die „Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ beklagt. In dasselbe Horn stößt Gottlob Frege, wenn er im Vorwort seiner Begriffsschrift hofft, „die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen, indem sie die Täuschungen aufdeckt, die durch den Sprachgebrauch über die Beziehungen der Begriffe oft fast unvermeidlich entstehen, indem sie den Gedanken von demjenigen befreit, womit ihn allein die Beschaffenheit des sprachlichen Ausdrucksmittels behaftet“.