Der doppelte Darwin. Oder: Wie man mit Bequemlichkeit die Sprache verwirrt

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„Oh, er war ein wahrer Blutsauger! Ein gieriger, zusammenkratzender, festhaltender, geiziger alter Sünder: hart und scharf wie ein Kiesel, aus dem noch kein Stahl einen warmen Funken geschlagen hat, verschlossen und selbstgenügsam und ganz für sich, wie eine Auster. Die Kälte in seinem Herzen machte seine alten Gesichtszüge starr, seine spitze Nase noch spitzer, sein Gesicht runzlig, seinen Gang steif, seine Augen rot, seine dünnen Lippen blau, und sie klang aus seiner krächzenden Stimme heraus. Ein frostiger Reif lag auf seinem Haupt, auf seinen Augenbrauen, auf dem starken struppigen Bart.“ Na, erkannt? Die Rede ist von Scrooge, Ebenezer Scrooge, den erst nächtliche Gesichte von seinen sozialen Defiziten befreien, um nicht zu sagen, erlösen sollten. Charles Dickens hat diesem Stinkstiefel Züge verliehen, die ihn als Vertreter des Malthusianismus ausweisen – einer Denktradition, die sich im England des frühen 19. Jahrhundert auf unheilvolle Weise mit dem grassierenden Manchesterkapitalismus verband und zur führenden Ideologie aufgestiegen war. So reagiert Scrooge auf die Bitte um eine Spende für die Armen mit der Frage, ob es denn keine Gefängnisse und Armenhäuser gebe. Als der Spendensammler antwortete, dass es deren mehr als genug gebe, wies Scrooge die Bitte mit folgenden Worten ab: „Ich freue mich selbst nicht zu Weihnachten und habe nicht die Mittel, mit meinem Geld Faulenzern Freude zu machen. Ich trage meinen Teil zu den Anstalten bei, die ich genannt habe; sie kosten genug, und wem es schlecht geht, der mag dorthin gehen!“ Als der Spendensammler einwendet: „Viele können nicht hingehen, und viele würden eher sterben“, reagiert Scrooge mit maximaler Gefühlskälte: „Wenn sie eher sterben würden, so wäre es gut, wenn sie es täten und die überflüssige Bevölkerung dadurch verminderten.“ Gefängnisse, Armengesetz und sozialverträgliches Ableben – das waren, so lässt sich Dickens´ Text lesen, die Angebote der besitzenden Eliten an die verarmte Bevölkerung.

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Damit erweist sich Scrooge als fleißiger Nachbeter der Lehren des Thomas Robert Malthus, seines Zeichens Nationalökonom und anglikanischer Pfarrer. Auf Grundlage dieser Doppelqualifikation verstand dieser sich bestens darauf, von einer Rolle in die andere und wieder zurück zu wechseln. In seinem Werk „An Essay on the Principle of Population“ gab er zunächst den Nationalökonomen, der eine leicht nachvollziehbare Rechnung aufmachte. Demnach wachse die Bevölkerung exponentiell, während die Nahrungsmittelproduktion linear zunehme. Die Folge: Die Lebensmittel werden knapper, die Preise steigen in die Höhe und die Verarmung und Verelendung weiter Bevölkerungsteile nehme unaufhörlich zu. Die so genannte „malthusianische Katastrophe“ nimmt ihren Lauf. Für Malthus entspringt diese Entwicklung einem ehernem Gesetz; eine These, der er mit Hilfe von Statistiken über die Entwicklung der US-amerikanischen Bevölkerung besondere Glaubwürdigkeit verleiht. Gerade noch in der Rolle des Nationalökonomen, gewinnt nun der Geistliche in Malthus die Oberhand, indem er das Ganze als gottgewollt erklärt. Geht es nach ihm, liegt die Lösung des Problems nicht in der Steigerung oder gar gerechteren Verteilung der Nahrungsmittel. Im Gegenteil: Hungersnöte, Krankheiten, Krieg, Gewalt und der Verzicht der armen Bevölkerung auf Nachwuchs sind geradezu notwendig, um dem ungehemmten Bevölkerungswachstum entgegenzuwirken. Das Geben von Almosen und Spenden sei gut gemeint, aber leider kontraproduktiv, weil es das Elend nur verlängere. Ebenezer Scrooge hätte es nicht überzeugender formulieren können. Nach Malthus ist das Leben ein ewiger „Kampf ums Dasein“. Damit hatte Malthus einen Begriff geprägt, der noch auf unheimliche Weise Karriere machen sollte.

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Denn als Charles Darwin im 1837 die Beagle für immer hinter sich ließ und an Land ging, hatte er bereits eine Ahnung davon gewonnen, dass unterschiedliche Arten sich aus gemeinsamen Vorfahren entwickeln. Aber er hatte keinen blassen Schimmer, welche Mechanismen diese Entwicklung vorantreiben. Da fiel ihm das Buch von Malthus in die Hände und es ging ihm ein Licht auf. In Analogie zu dem anglikanischen Pfarrer sah er, dass sich tierische oder pflanzliche Populationen ohne Fressfeinde exponentiell entwickelten, während sie mit natürlichen Fressfeinden konstant bleiben und sich sogar in Hinblick auf ihre Fitness verbessern. Es herrsche in der Welt der Organismen ein – hier führt er Malthus´ zentralen Begriff in seine Theorie ein – unerbittlicher „Kampf ums Dasein“. Damit verwirrte Darwin die Köpfe seiner Zeitgenossen in nicht unerheblichem Maße. Denn die mussten nun zu dem Schluss kommen, dass es in der Welt der Tiere und Pflanzen genau so zugehe, wie in der englischen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts, was wiederum heißt, dass diese Gesellschaft dann doch gar nicht so übel eingerichtet sein kann. Und Scrooge lacht sich ins Fäustchen. Dabei ging es Darwin überhaupt nicht um eine Rechtfertigungsideologie. Sein Fokus lag nicht so sehr auf den blutigen Gemetzeln, die in der Tierwelt ja durchaus auch vorkommen. Sein wirkliches Aha-Erlebnis, die aus der Malthus-Lektüre resultierte, lag in der Erkenntnis, dass Organismen vor allem eines „im Sinn“ haben: möglichst viele Nachkommen zu produzieren. Um dieses Ziel zu erreichen, verfolgen sie die unterschiedlichsten Strategien, mit denen sie den jeweils herrschenden Selektionsfaktoren ein Schnippchen schlagen. So suchen die Organismen gerade nicht notwendig die offene Feldschlacht gegen ihre Fressfeinde, sondern bilden Fähigkeiten heraus, mit denen sie sich diesen möglichst entziehen, so etwa die Fähigkeit zur Mimese oder Mimikry. In seinem 1871 erschienenen Werk „Die Abstammung des Menschen“ weist Darwin auf noch einen weiteren Selektionsfaktor hin: auf die „sexuelle Zuchtwahl“, wie er es nennt. Um sich mit den begehrtesten Sexualpartnern zu paaren, bilden Organismen Merkmale aus, die aus energetischer Sicht ziemlich unsinnig sind. Beispiele hierfür sind etwa das Hirschgeweih oder das Pfauenrad.

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Deshalb formuliert er Malthus´ Begriff vom Daseinskampf bereits in seiner „Entstehung der Arten“ ganz nach seinem Gusto um: „Ich will vorausschicken, dass ich diesen Ausdruck in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche, unter dem sowohl die Abhängigkeit der Wesen voneinander, als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch Erfolg in bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird. Man kann mit Recht sagen, dass zwei hundeartige Raubtiere in Zeiten des Mangels um Nahrung und Leben miteinander kämpfen. Aber man kann auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste um ihr Dasein gegen die Trockenheit, obwohl es angemessener wäre zu sagen, sie hänge von der Feuchtigkeit ab. Von einer Pflanze, welche alljährlich tausend Samen erzeugt, unter welchen im Durchschnitt nur einer zur Entwicklung kommt, kann man noch richtiger sagen, sie kämpfe ums Dasein mit anderen Pflanzen derselben oder anderer Arten, welche bereits den Boden bekleiden.“ Insgesamt zeitigt die „natürliche Zuchtwahl“ für Darwin zwei Konsequenzen: das „Erlöschen minder geeigneter Lebensformen“, womit Arten, nicht Individuen gemeint sind, sowie die „Divergenz des Charakters“, also die Differenzierung der Arten. Diese Mechanismen macht er an einem anschaulichen Beispiel deutlich: „Wenn z. B. ein Vogel irgendwelcher Art sich seine Nahrung leichter durch den Besitz eines gekrümmten Schnabels verschaffen könnte und wenn einer mit einem stark gekrümmten Schnabel geboren würde und demzufolge gut gediehe, so würde doch die Wahrscheinlichkeit sehr gering sein, dass dieses eine Individuum seine Form bis zum Verdrängen der gewöhnlichen fortpflanzte. Aber nach dem, was wir im Zustand der Domestikation vorgehen sehen, zu urteilen, kann darüber kein Zweifel sein, daß dies Resultat eintreten würde, wenn viele Generationen hindurch eine große Zahl von Individuen mit mehr oder weniger gebogenen Schnäbeln erhalten und eine noch größere Zahl mit den geradesten Schnäbeln zerstört würde“.

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Darwins „Kampf ums Dasein“ ist also etwas ganz anderes ist als Malthus´ „Kampf ums Dasein“. Und dennoch greift er zu Formulierungen, die genau das insinuieren und dem sozialdarwinistischen Affen Zucker geben. So schreibt er an anderer Stelle: „Was für ein Krieg zwischen Insekt und Insekt, zwischen Insekten, Schnecken und anderen Tieren mit Vögeln und Raubtieren, welche alle sich zu vermehren strebten … der Kampf wird fast ohne Ausnahme am heftigsten zwischen den Individuen einer Art sein“. Darwin beginnt also gerne mit martialischen Vokabeln wie „Krieg“ und „Kampf“ und landet dann jedoch zuverlässig bei der sehr friedlichen, über längere Entwicklungsphasen hergestellten Fähigkeit der Organismen, sich an die jeweils herrschenden Umweltbedingungen anzupassen. Demnach seien diejenigen Organismen im Vorteil, die am besten an die Rahmenbedingungen adaptiert sind. Auch für dieses Prinzip findet er eine pointierte Formulierung: „Survival of the fittest“. Ein Begriff, der eine verwickelte Entwicklungsgeschichte hat. Denn er stammt ursprünglich nicht von Darwin, sondern von dem englischen Philosophen und Soziologien Herbert Spencer. Dieser Spencer destilliert ihn aus der Lektüre von Darwins epochalen Werk und macht aus einer naturwissenschaftlich gewonnenen Erkenntnis ein metaphysisches Prinzip, das das ganze Sein durchwirkt. Spencer „will Evolution total, vom All bis in die Seele, und vor allem in der Gesellschaft. Krankes, Schwaches und Entartetes merzt sich im Daseinskampf selber aus, das Bessere ist der Feind des Guten“. Spencer erweist sich damit als Sozialdarwinist der ersten Stunde, für den der Begriff „fittest“ die Bedeutung von „der Stärkste“ hat. Diesen so in die gesellschaftliche Debatte eingeführten Begriff übernimmt Darwin nun in späteren Auflagen seines Werks und deutet ihn wiederum metaphorisch aus. Bei ihm geht es nicht um den „Stärksten“, sondern um den „am besten an die Umweltbedingungen Angepassten“. Aber wie schon beim „Kampf ums Dasein“ vermag er auch das Wort vom „Survival of the fittest“ nicht von seinen Kontaminationen zu befreien. Mit diesem Geburtsfehler versehen, entwickeln beide Begriffe ein Eigenleben und changieren permanent zwischen Biologie und Biologismus, zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlicher Ideologie, das sich bis in die heutige Zeit fortsetzt. Durch die unglückliche Wahl bereits inhaltlich vorgeprägter Begriffe leistete Darwin selbst einer Lesart Vorschub, die mit seiner Lehre selbst überhaupt nichts zu tun hat.

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Warum geht Darwin so hemdsärmelig mit der Sprache und einzelnen Begrifflichkeiten um? Darauf gibt es mindestens zwei Antworten. Die erste lautet, dass er in seinem „privaten“ Denken durchaus eine Nähe zum gerade entstehenden Sozialdarwinismus empfand und so keine wirklichen Berührungsängste gegenüber Malthus´ und Spencers Denken hegte. So konnte auch er, der Privilegierte, dem Gedanken durchaus etwas abgewinnen, der arme Teil der Bevölkerung solle sich freiwillig der Zeugung von Nachkommenschaft entheben. Scrooge light. Die zweite lautet: Bequemlichkeit. Zumindest nennt Darwin selbst diesen Grund, warum er sich der Begriffe „Kampf ums Dasein“ und „Survival of the fittest“ bediente. Was meint er damit? Er führt dies nicht weiter aus. Doch man kann es sich denken. Offensichtlich war er der Überzeugung, seine Entdeckung mit Hilfe von allgemein gängigen, allseits gelernten Begriffen auf vergleichsweise simple Art zu verdeutlichen als er dies mit sprachlichen Neuschöpfungen hätte tun können, die er erst langwierig hätte ausdeklinieren müssen. Damit hatte er die Rechnung allerdings ohne den Wirt gemacht. Denn gerade die vorgeprägten Begriffe haben seine Gedanken eher verdunkelt als erhellt und geben bis heute Anlass zur Falschinterpretation. Es ist, als ob man Darwins Lehre permanent vor Darwin retten müsste. Der doppelte Darwin. Genau dies unternimmt der russische Adelige und spätere Anarchist Pjotr Alexejwitsch Kropotkin, der in seinem Werk „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ den Unterschied zwischen Darwin und seinen sozialdarwinistischen Adepten herausarbeitet und vor allem den Fokus auf die vielfältigen Formen der Kooperation in der Welt der Organismen richtet, die ebenfalls evolutionäre Vorteile mit sich bringen können. In jedem Fall belegt dieser kurze Blick in die Begriffsgeschichte rund um die Meme „Kampf ums Dasein“ und „Survival of the fittest“, wie stark die Sprache das Denken formt. Bis auf den heutigen Tag.