„Wenn die Welt untergeht“, so soll Reichskanzler Otto von Bismarck einmal gesagt haben, „ziehe ich nach Mecklenburg, denn dort geschieht alles 100 Jahre später“. Ein geniale Überlebensstrategie, die sich aber eigentlich erübrigt. Denn die Welt kann gar nicht untergehen. Dafür hat der liebe Gott höchstpersönlich gesorgt, indem er die Schweizer erschuf. Mit ihrem sprichwörtlichen Ordnungssinn verwandeln sie geradezu gottgleich jedes Chaos in eine sedierende Gleichförmigkeit von hohem Beharrungsvermögen. Ein hübsches Beispiel bietet der Schweizer Entertainer Emil Steinberger, der – im Hotelbett liegend – die Bettdecke mehrmals glattzieht, aber nicht einschlafen kann. Dann merkt er, dass das Oberbett falsch herum liegt. Empört ruft er aus: „Haben Sie wieder die Knöpfe oben“, dreht die Decke um, so dass die Knopfreihe ans Fußende gelangt und das überall drohende Chaos zumindest hier – in dem überschaubaren Rahmen eines Hotelzimmers – auf ein beruhigendes Maß zurückgedrängt werden kann. Von ähnlichem Gemüt ist der Schweizer Kabarettist, Autor und bildende Künstler Ursus Wehrli, der nicht anders kann, als die ihn umgebende Welt seiner Vorstellung von Ordnung zu unterwerfen. So sortiert er schon einmal die Bestuhlung einer Freilicht-Veranstaltung ebenso nach Farben wie parkende Autos oder die Kunststoffkugeln eines Bällebads. Und auch vor den großen Werken berühmter Künstler macht er nicht halt. So bereitet ihn – man kann es gar nicht anders sagen – eines jener fiebrigen Wimmelbilder von Keith Haring geradezu körperliche Schmerzen. „Das ist alles so verstreut“, klagt Wehrli, „man weiß gar nicht, woran man ist.“ Sagts und zerschneidet das Bild (selbstverständlich eine Kopie!) in seine grafischen Bestandteile und ordnet in puncto Farbe und Größe Gleiches zu Gleichem. Herr Wehrli räumt auf – im Zweifel auch die Kunst.
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Alexander von Humboldt – kein Schweizer – sah als erster Forscher überhaupt, dass in der Natur alles mit allem zusammenhängt und aufeinander einwirkt: „Überall erkannte er Verbindungen. Nichts, noch nicht einmal den winzigsten Organismus, hat er separat betrachtet. ´In der großen Verkettung der Ursachen und Wirkungen´, sagt Humboldt, ´darf kein Stoff, keine Thätigkeit isoliert betrachtet werden´. Mit dieser Erkenntnis erfand er das ´Netz des Lebens´- den Begriff der Natur, wie wir ihn heute verstehen“. Die Organismen registrierte er nicht in den „engen Kategorien des Klassifikationssystems, sondern nahm sie als Lebensformen eines bestimmten Standorts und Klimas wahr.“ Damit ist die zentrale Opposition benannt: Humboldts „Netz des Lebens“ versus Klassifikation à la Carl von Linné, wie Andrea Wulf am Beispiel der Botanik beschreibt. Vor Humboldt – so Wulf – ordnete man die Pflanzen „oft nach ihrer Beziehung zum Menschen – zum Beispiel entsprechend ihrem unterschiedlichen Einsatz als Arzneimittel oder Dekoration; oder die Klassifizierung orientiere sich an ihrem Geruch, Geschmack oder ihrer Genießbarkeit. Im 17. Jahrhundert … versuchten die Botaniker, die Pflanzen rationaler einzuteilen – etwa nach den Unterschieden ihrer Gestalt oder nach Ähnlichkeiten bei Samen, Blättern, Blüten und so fort. So wurde der Natur eine Ordnung aufgezwungen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts revolutionierte der schwedische Botaniker Carl von Linné dieses Konzept durch sein sogenanntes Sexualsystem, bei dem die Welt der Blütenpflanzen anhand der Zahl von Reproduktionsorganen – Stempeln und Staubgefäßen – eingeteilt wird. Ende des 18. Jahrhunderts setzten sich allmählich auch andere Klassifikationssysteme durch, was aber nicht an der festen Überzeugung der Botaniker änderte, dass die Taxonomie das Leitprinzip ihrer Disziplin blieb.“
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Auch Charles Darwin, der Humboldts Schriften vor und während der Reise auf der Beagle geradezu verschlang, war überzeugt von einem systemischen Zusammenhang allen Lebens. Aber mehr noch: „Wie niemand vor ihm wird er die Welt über die Scheidelinie zwischen toter und lebendiger Materie als dynamisches System begreifen“, womit er stärker als Humboldt die geologischen Rahmenbedingungen in das Netz des Lebens integrierte: „Landschaften formen Leben und umgekehrt. Aus Schichten wird Geschichte“. Dieses systemische Denken versetzte beide Forscher in die Lage, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt – wir befinden uns in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts! – die Gefahren von Umweltzerstörung und Klimawandel zu erkennen und zu benennen. Nun geschieht jedoch etwas, was im diametralen Gegensatz zu diesem Denken steht. Darwin entnimmt – wie Humboldt bereits auch schon – diesem System und seinen Subsystemen in schöner Regelmäßigkeit tierische, pflanzliche und geologische Proben und schickt sie auf die Reise in die Heimat und beauftragt seinen alten Botanik- und Geologie-Professor John Henslow damit, sie zu untersuchen. Ursus Wehrli hätte es nicht besser machen können: Darwin extrahiert seine Fundstücke aus dem Gesamtzusammenhang der Natur und lenkt damit den Fokus auf das Einzelobjekt mit dem Ziel, Gleiches Gleichem zuzuordnen. Keine Frage: Dieser Vorgang war für Darwin unabänderlich, um mit Hilfe dieser Untersuchungen seine Auffassung von der Evolution allen Lebens zu unterfüttern. Dennoch abstrahiert er in diesem Moment von seinen Proben das Netz des Lebens, weil ihn bei seiner Theoriebildung das unübersehbare Gewusel der Natur ebenso stört wie Ursus Wehrli das Gewimmle auf den Bildern von Keith Haring. Ja, auch in der Natur, so hallt Wehrlis Aussage in unseren Ohren nach, „ist alles so verstreut, man weiß gar nicht, woran man ist.“ Und so räumt Herr Darwin gehörig auf.
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Dieser Form eines Objekt-zentrierten Weltzugangs können wir nicht entgehen. Die Evolution hat – wie ich es bereits in einem anderen Post beschrieben habe – einen enormen Aufwand betrieben, damit wir einzelne Objekte in Form, Farbe, Oberflächentextur, Geruch, Geschmack etc. wahrnehmen können. Unser Gehirn integriert diese unterschiedlichen Wahrnehmungen zu einem Gesamtbild und generiert so ein „Ding“ mit seinen für uns relevanten Eigenschaften. Systemische Zusammenhänge zwischen diesen Objekten springen uns hingegen nicht direkt ins Auge. Diese müssen wir durch Beobachtung und logische Schlüsse immer erst herleiten. Die Dinge selbst nehmen wir hierbei nicht primär in ihren individuellen Zügen, sondern in ihrem Muster wahr. Denn erst das versetzt uns in die Lage, Gleiches Gleichem zuzusortieren und dies vor dem Hintergrund unseres Annäherungs- und Vermeidungssystems zu bewerten. Ein Zustand, der unseren Vorfahren solange keine Mühe bereitet hat, solange sie Instinkt-gesteuert fest in die Wirkzusammenhänge der Natur eingebunden waren. Im Rahmen der allmählichen Bewusstwerdung des menschlichen Geistes löst sich die Welt in Einzeldinge auf. Dieser Auflösungstendenz wirken wir durch unsere angeborene Fähigkeit zur Herstellung von Kausalzusammenhängen entgegen, mit der wir die Dinge und Erscheinungen in ein durch uns konstruiertes Ordnungsgefüge zurückbinden. Unser Mittel hierfür ist die Erzählung, das Narrativ, der Text.
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Dieser Sachverhalt wird in jedem gut geführten Museum augenfällig. Ein Museumspädagoge hätte seinen Beruf verfehlt, wenn er seine Exponate ohne jede Erläuterung dem geneigten Besucher präsentieren würde. Zumindest wir als Besucher wären mehr als irritiert. Es würde auch nicht besser, wenn neben dem Exponat nur seine Benennung erschiene, also neben der Präsentation eines Turmfalken die Bezeichnung „Turmfalke“. Wir erwarten einfach deutlich mehr, zum Beispiel Informationen über das Nahrungsspektrum, das Jagdverhalten, die Körpermaße und Flügelspannweite, den Lebensraum, den charakteristischen Ruf und vieles andere mehr. Ohne diesen Text, ohne diese Einbindung würden wir ein Objekt sehen, das für uns ohne Bedeutung wäre. Eine Auffassung, die auch der Medienwissenschaftler Norbert Bolz vertritt: „Denken Sie an ein ganz triviales Beispiel. Sie machen einen Urlaub in Rom, oder in Spanien oder wo auch immer, in Kreta. Sie würden nichts sehen, wenn Sie nicht irgendeinen Dumont-Reiseführer dabei hätten. Sie kriegen überhaupt nichts zu sehen im Sinne von unmittelbarer Erfahrung, wenn Sie nicht vorher ein bisschen gelesen haben.“ Um ein Ding wahrnehmen und „richtig“ einordnen zu können, bedürfen wir also einer inhaltlichen Bestimmung. Und die ist immer narrativ. Mit anderen Worten: Wir verhalten uns, wo wir gehen und stehen, wie jeder gute Museumspädagoge. Wir heften jedem Objekt in dem Moment, in dem es in unser Gesichtsfeld gelangt, ein kleines Erklär-Schildchen an. Ein unbewusster Vorgang, von dem wir erst dann eine Ahnung bekommen, wenn wir ein Objekt gerade mal nicht in seiner Bedeutung einordnen können. Dann ruhen wir solange nicht, bis wir das Geheimnis gelüftet haben und diesem Objekt nun diesen „inneren“ Erklärtext zuweisen können. Alles ist Text.
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Max Frisch ist als Schweizer geradezu qua Geburt ein Fachmann für Ordnung. In seinem Buch „Der Mensch erscheint im Holozän“ erzählt er die Geschichte von Herrn Geiser, einem 73-jährigen Rentner, den es von Basel in ein abgelegenes Tessiner Bergdorf verschlagen hat. Aufgrund andauernder Wolkenbrüche droht der Hang oberhalb des Dorfes ins Rutschen zu geraten. Die aufziehende äußere Katastrophe spiegelt die innere. Denn Herr Geiser zeigt erste Symptome einer Demenz. In dieser Situation beginnt er, Wissen anzusammeln. Er schreibt Dinge auf, die ihm relevant erscheinen, und heftet die beschriebenen Zettel an die Wand. So sind für Herrn Geiser „mindestens neun Arten von Donner zu unterscheiden: 1. Der einfache Knall-Donner. 2. Der stotternde oder Koller-Donner, in der Regel nach einer längeren Stille, verteilt sich über das ganze Tal und kann Minuten dauern. 3. Der Hall-Donner, schrill wie ein Hammerschlag auf ein loses Blech, das seinen schwirrenden und flatternden Hall verbreitet, wobei der Hall lauter ist als der Schlag. 4. Der rollende oder Polter-Donner, vergleichsweise gemütlich, lässt an rollende Fässer denken, die gegeneinander poltern …“ So listet er seine neun Donnerarten mit kurzen Erläuterungen auf und ergänzt sie später durch sechs weitere. Eine Arbeit, die der eines Museumspädagogen nicht unähnlich ist: Er heftet den Erscheinungen kleine Erklärschildchen an. So macht es Herr Geiser auch mit anderen Wissensgebieten. So sammelt er Fakten über das Tessin, die Erdgeschichte, die Saurier, den Menschen, das Gedächtnis etc. Auf diese Art entsteht an der Wand nach und nach ein ganzer Teppich an sich überlappenden handschriftlichen Notizen und ausgeschnittenen Lexikon-Einträgen.
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Ein Wissensschatz, der jederzeit bedroht ist. Schon ein Durchzug genügt – etwa wenn seine Tochter Corinne das Fenster öffnet –, „und die Zettel liegen auf dem Teppich, ein Wirrwarr, das keinen Sinn gibt.“ Ein geniales Sinnbild für die aufkommende Demenz Geisers: Mit der allmählichen Auflösung der funktionellen Strukturen seines Gehirn löst sich auch die durch das Bewusstsein generierte Ordnung der Welt auf. Sinn, so wird ihm klar, ist menschengemacht: „Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann, fragt sich Herr Geiser.“ An anderer Stelle stellt er fest: „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.“ Kurz: Die Welt braucht keine Sprache und kein Bewusstsein; „wahrscheinlich gibt es ganze Milchstraßen ohne eine Spur von Hirn“. In einem klaren Moment stellt sich Herr Geiser deshalb die entscheidende Frage, nämlich „was er denn eigentlich wissen will, was er sich vom Wissen überhaupt verspricht“. Das beantwortet er sich, als er etwas über den Goldenen Schnitt in Erfahrung bringen möchte. Zwar braucht Herr Geiser „im Augenblick keinen Goldenen Schnitt, aber Wissen beruhigt.“ Damit hat Frisch den zentralen Punkt getroffen, der hinter dem menschlichen Wissenstrieb steht: Angst vor dem Unbekannten. Es geht bei alldem also um die Befriedigung eines emotionalen Bedürfnisses. Die Welt hat damit nichts zu tun: „Die Ameisen, die Herr Geiser neulich unter einer tropfenden Tanne beobachtet hat, legen keinen Wert darauf, daß man Bescheid weiß über sie, so wenig wie die Saurier, die ausgestorben sind, bevor ein Mensch sie gesehen hat. Alle die Zettel … können verschwinden. Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht.“ Mit dem Ende des Menschen endet auch sein Text, und die Natur ist wieder das, was sie zuvor war. Sprachlos. Sinnlos.