Kleists verzweifelte Botschaften vom Rande des Sagbaren

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Heinrich von Kleist hatte so sein ganz eigenes Verhältnis zu seiner Muttersprache. Am 5. Februar 1801 schreibt er an seine Lieblingsschwester Ulrike: „O gewiß! Und gern möchte ich Dir alles mitteilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist nicht möglich, und wenn es auch kein weiteres Hindernis gäbe, als dieses, daß es uns an einem Mittel zur Mitteilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt sind nur zerrissene Bruchstücke. Daher habe ich jedesmal eine Empfindung, wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll; nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht alles zeigen kann, nicht kann, und daher fürchten muß, aus den Bruchstücken falsch verstanden zu werden.“ Die tiefe Ahnung, dass Sprache bei der adäquaten Vermittlung des Innersten versagen muss, verleitet ihn zuweilen zu brieflichen Äußerungen wie: „Ich wollte, ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken. – Dummer Gedanke!“ oder „Ja wenn man Thränen schreiben könnte“. Was der gute Mann damit sagen will: Die rein seelisch-körperlichen Gefühläußerungen sind authentischer als es der sprachliche Ausdruck es je sein könnte. Wie gesagt: Die Sprache kann die Seele nicht malen.

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Einerseits permanent am Rande des überhaupt noch Sagbaren taumelnd, zeigt sich Kleist andererseits äußerst klarsichtig und redselig, wenn es um die Frage geht, wie während und durch das Gespräch Gedanken entstehen und sich zu vollständigen Sätzen fügen. In seiner Schrift „Über die allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Reden“ weist er darauf hin, dass die Gedanken erst sukzessive im Vollzug des Redens selbst entstehen. Zu Beginn steht eine „dunkle Vorstellung“, die der Sprecher dann beim Reden konkretisiert und ihr zunehmend Struktur verleiht, so dass er am Ende einen in sich schlüssigen und nachvollziehbaren Satz herausbringt. Kleist insinuiert, dass es hierfür eines Gesprächspartners bedürfe, der wie eine Hebamme dabei mithilft, diesen Gedanken zutage zu befördern. Dieses Gegenüber muss hierbei von dem Thema nicht wirklich etwas verstehen. Auch muss es nicht über intelligente Fragetechniken verfügen, um die entscheidenden Antworten zu provozieren. Sondern es muss einfach nur anwesend sein, weil es dadurch den Druck auf den Sprecher ausübt, seinen einmal begonnenen Satz nun auch glücklich zu Ende zu bringen.

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Diese Hebammen-Funktion eines Gegenüber entfällt selbstverständlich für jeden, der seine Gedanken schreibend ans Tageslicht hervorbringen will. Dennoch hat der Schreibprozess Ähnlichkeit mit dem bei Kleist beschriebenen Vorgang. Am Anfang steht die Absicht, etwas zu Papier zu bringen. Dieser Impuls kann einerseits selbst noch dunkel und unscharf sein: In solchen Fällen steigt der innere Drang, etwas schreiben zu wollen. Oder es steht – andererseits – bereits ein scharf umrissenes Thema vor Augen, das zur Beackerung herausfordert. In jedem Fall löst dieser Impuls hektische Betriebsamkeit im Unterbewusstsein aus: Denn nun beginnen die ersten Wörter und Satzfetzen, die ersten Strukturelemente und Satzmelodien aus „unerreichbarer Tiefe des Gemüths“ (Wilhelm von Humboldt) ins Bewusstsein zu treten – wie Frühnebel, der aus einem klaren Bergsee steigt. Ich für meinen Teil habe es mir angewöhnt, all diese Fragmente stumpf und ungeordnet in meinen Rechner zu hacken. Zu Beginn tummeln sich so viele Bruchstücke in meinem Kopf, dass ich mit dem Aufschreiben kaum nachkomme. Irgendwann werde ich dann aber doch Herr der Lage. In einem zweiten Schritt bringe ich nun diese Einzelkomponenten nach allen Regeln der Grammatik, Semantik und Rhetorik in einen sinnvollen Zusammenhang.

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Auch hierbei steigen immer weiter neue Fragmente auf, die durch ihr bloßes Auftauchen auf ihr unveräußerliches Recht pochen, Teil des Schreibprozesses zu werden. Diese immer wieder neu hineindrängenden Gedanken führen dazu, dass der Schreibprozess mäandert und der Text selbst immer wieder eine neue Richtung nimmt. Das führt nicht selten zu dem skurrilen Ergebnis, dass dieser am Ende eine vollkommen andere Form annimmt, als er vorher vor Augen stand. Schreiben ist also – wie das Sprechen – nicht die lautliche bzw. schriftliche Veräußerung bereits vorher fixierter Gedanken; Schreiben und Reden sind die zentralen Komponenten des Denkprozesses selber. Oder nach Wilhelm von Humboldt: „Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken. Die intellectuelle Thätigkeit, durchaus geistig, durchaus innerlich und gewissermaßen spurlos vorübergehend, wird durch den Laut in der Rede äußerlich und wahrnehmbar für die Sinne. Sie und die Sprache sind daher eins und unzertrennlich von einander“.

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Auch jenseits unserer bewussten Textproduktion bewegen wir uns ständig in einer sprachlichen Matrix. Der französische Aufklärer Étienne Bonnot de Condillac macht darauf aufmerksam, dass wir eigentlich alles, was wir sehen, hören, riechen, spüren und schmecken können, unentwegt sprachlich kommentieren. Wenn wir uns in den Finger schneiden, empfinden wir nicht einfach bloß Schmerz, sondern rubrizieren ihn immer auch gleich unter dem Begriff „Schmerz“ und begleiten ihn zudem mit Ausdrücken des Schmerzes. Jeder Schmerz – sobald er ins Bewusstsein steigt – sieht sich immer gleich schon von einem Cocon aus Sprache umhüllt. Also auch hier bestätigt sich erneut: Sinneswahrnehmung und Sprachproduktion sind gleichursprünglich und treten wie siamesische Zwillinge auf. Ein Befund, den die moderne Kognitionswissenschaft bestätigt. Zugleich ist erwiesen, dass auch die gegenläufige Richtung gilt – nämlich dass wir mit Hilfe der Sprache das Schmerzempfinden verringern können. Und mehr noch:  Auch jenseits eines körperlichen Schmerzes können wir Menschen verletzen – allein durch die Sprache. Auch dies – nebenbei gesprochen – Beispiele dafür, wie sehr Sprache Handeln sein kann, mit dem man auf sein Umfeld Einfluss nimmt.

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Vermutlich wird sich niemals wissenschaftlich exakt nachzeichnen lassen, wie eine Empfindung zur Sprache wird und – umgekehrt – Sprache zur Empfindung. Klar ist nur, dass dieser „Stoffwechsel“ in einer genau festgelegten Struktur erfolgt – in der Struktur unserer Muttersprache auf der jeweils aktuellen Sprachstufe. Bei einem deutschen Muttersprachler bedient sich die Empfindung der deutschen Sprache, wie sie sich bei einem französischen Muttersprachler der französischen Sprache bedient. Auch träumt ein deutscher Muttersprachler in der deutschen Sprache, während der französische Muttersprachler in der französischen Muttersprache träumt. Innerhalb unseres Sprachraums bedienen wir uns bei alledem nicht des Alt-, Mittel- oder Frühneuhochdeutschen – wir bedienen uns des Neuhochdeutschen. Und innerhalb dieser Sprachstufe wiederum reden wir nicht in der Manier des 18., 19. oder 20. Jahrhunderts, sondern eben in der des frühen 21. Jahrhunderts.

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Mit der Geburt beginnen wir also, unsere Muttersprache zu internalisieren. Oder in den Worten Wilhelm von Humboldts: „Durch denselben Akt, vermöge dessen der Mensch die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein.“ Da Sprache immer Bedeutung hat, internalisiert er mit der Sprache zugleich auch die Narrative, das Wertesystem und die Weltdeutung, die in einer Kultur und einer Gesellschaft dominieren. Wenn das Narrativ, Picasso sei ein großer Maler, allgemeingültig gesetzt ist, so kommen wir nicht umhin, dies wie mit der Muttermilch aufzusaugen und für „wahr“ zu halten – auch dann, wenn wir nicht über die ästhetische Fachkompetenz verfügen und dies also auch nicht ernsthaft begründen könnten. Und es kostet viel Energie, um sich aus diesem vorgeprägten Urteil zu lösen. Und wir alle, die wir im Zeichen des Christentums geboren sind, kommen – ob Atheist oder glühender Anhänger – an den gängigen Narrativen der heiligen Samariters, des Menschenfischers, des Foltertods oder der Pieta nicht vorbei. All das schwingt im Hintergrund mit, wenn wir in die entsprechenden Situationen geraten, und verleiht diesen immer sofort eine vorgeprägte Deutung. Dass wir also nicht anders können, als unsere Empfindungen mit einer vorgegebenen Bedeutungsstruktur auszudrücken – genau das steht hinter Kleists verzweifelten Botschaften vom Rande des Sagbaren.