Eigentlich sagt jedes handelsübliche Vogelkunde-Buch dasselbe: Ende April, Anfang Mai finden sich die Mauersegler nach einem mehrmonatigen Flug aus dem südlichen Afrika in unseren Gefilden ein. Und, was soll ich sagen: Genau so ist es gekommen. Seit dem 28. April schießen die verwegenen Flugkünstler mit schrillem Pfeifen wieder über die Dächer unseres Viertels hinweg. Sie sind allerdings nicht deshalb so pünktlich, weil sie sich an die Festlegungen der Vogelkunde-Bücher irgendwie gebunden fühlten. (Hier versagt die Sprechakt-Theorie also eindeutig;) Der Grund ist ein anderer: Unterschreitet die Tageslänge inklusive Dämmerung die Dauer von 17 Stunden, verlassen sie ihre Winterquartiere im südlichen Afrika und ziehen mit Sack und Pack nach Europa und das nördliche Asien. Ende Juli, Anfang August – wenn die Tageslänge hier auf der Nordhalbkugel unter die entscheidende Marke von 17 Stunden fällt – geht es wieder zurück. Die Mauersegler bleiben also nur 3 Monate bei uns wie sie auch nur 3 Monate im Süden bleiben. Die restlichen 6 Monate sind sie fliegend auf Wanderung – und zwar non-stop.
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Aber auch in ihren Quartieren – egal ob Süden oder Norden – sind sie eigentlich immer in der Luft. Ob Nahrungsaufnahme oder Paarung – beides vergeht bei ihnen wie im Flug. Und auch der Schlaf findet in den Lüften statt. Ungelogen: Das Bett der Mauersegler befindet sich buchstäblich im Himmel. Dafür steigen sie in der Abenddämmerung auf eine Höhe von rund 3000 Meter, breiten ihre Flügel aus, flattern zuweilen auch dabei, schlafen ein und sinken sowohl in ihre Träume wie auch langsam der Erde entgegen. Der Trick dabei: Die Flugakrobaten schlafen mit nur einer Gehirnhälfte, die andere bleibt wach. So können sie ihre Muskelspannung – und ihren Flug – stabil halten. Nur in den REM-Phasen verlieren sie die Kontrolle über ihren Körper, weil die Muskulatur erschlafft. Das kostet sie dann den einen oder anderen Höhenmeter. Doch nach nur wenigen Sekunden ist dieser Spuk vorbei und sie können ihren kontrollierten Schlummer fortsetzen.
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Einer der bedeutendsten Scholastiker des Mittelalters, Albertus Magnus, hatte seinen Aristoteles sehr gründlich gelesen. Und so wusste er auch um die Bezeichnung des alten Griechen für den Flugakrobaten: Der hatte ihn mit dem Begriff „apus“ bezeichnet, was soviel wie „fußlos“ heißt. Entgegen der offensichtlichen Wortbedeutung wollte Aristoteles aber damit keineswegs behaupten, dass die Spezies bar jeden Fußes sei. Vielmehr wollte er damit auf die eher unterentwickelten Extremitäten hinweisen. Da Albertus Magnus diese semantische Dissonanz nicht auffiel, nahm er Aristoteles beim Wort und behauptete nun seinerseits ganz fidel, dass das arme Tier tatsächlich keine Füße habe. Offensichtlich ging der kirchentreue Mann davon aus, dass der liebe Gott es im Zuge der Schöpfung einfach so in die Luft gesetzt und dann seinem Schicksal überlassen habe. Seitdem fliegt der Mauersegler, was seine Flügel hergeben, und fliegt und fliegt und fliegt und fliegt …
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Das Linnésche System treibt den Zauber so weit, dass es den Mauersegler unter der Bezeichnung „apus apus“ führt: Fußlos fußlos. Damit stellt sich eine wesentliche Frage: Wenn die Füße derart unterentwickelt sind – warum hat der liebe Gott sie ihm denn überhaupt verpasst? Nun, selbst Vielflieger wie die Mauersegler haben mal irdischen Kontakt – und zwar genau während sie brüten und danach ihren Nachwuchs aufziehen. Und da kommen ihnen die Füße richtig zupass. Denn die sind alles andere als unterentwickelt, sondern exakt für ihren Einsatzzweck geformt, nämlich sich an senkrechten Felswänden und den eigenen Nestern festzuhaken. Und die Füße haben noch eine weitere Funktion: Wissenschaftler haben beobachtet, dass unsere Freunde ihre Mauken immer bei Temperaturen ab 33 °C ausfahren und dabei die Zehen spreizen. Offensichtlich haben die Mauersegler – die weder schwitzen noch hecheln können – in ihren Füßen ein ideales Instrument gefunden, ihre Körpertemperatur zu regulieren. Hat das Linnésche System mit der Bezeichnung „apus apus“ also doch recht, eben weil die Füße eben keine Füße sind, sondern Haken und Wärmeableiter? Und dennoch sprechen wir mit der größten Selbstverständlichkeit auch weiterhin von „Füßen“.
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Nach der Aufzucht, die bis Ende Juli reicht, machen sich die Mauersegler wieder auf den Weg in den Süden. Hierbei kommt ihnen der serienmäßig eingebaute Magnetsinn zugute. Mit diesem orientieren sie sich an der Nord-Süd-Ausrichtung der Magnetfeld-Linien ebenso wie an deren Intensität und deren Neigungswinkel relativ zur Erdoberfläche. Und welches „Organ“ für diese Leistung verantwortlich ist, erklärt die Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Danach isolierten chinesische Forscher aus „der Netzhaut von Tauben und aus Antennen von Monarchfaltern … ein Protein, das ein Schlüssel zum Verständnis der biologischen Grundlagen des Magnetsinns sein könnte. Die Forscher gaben dem Eiweißmolekül den Namen Magneto-Rezeptorprotein, kurz MagR. Es enthält einerseits Eisenatome, ist andererseits aber auch in der Lage, eine stabile Verbindung mit Cryptochrom einzugehen… Ihre Untersuchungen ergaben, dass sich der MagR-Chryptochrom-Komplex in flüssigem Medium entlang magnetischer Feldlinien ausrichtet und rotierenden Magneten folgt.“
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Der Mauersegler ist also eindeutig ein Geschoss mit vielen Extras – und das ohne Aufpreis! Und dennoch: Stimmt das eigentlich alles, was ich hier von mir gegeben habe? Verstehen Sie diese Frage nicht falsch: Ich habe Sie ganz gewiss nicht angelogen und alles, was ich vom Mauersegler in Erfahrung gebracht habe, nach bestem Wissen und Gewissen wiedergegeben. Wer es allerdings sehr genau mit der Wahrheit nimmt, wird bald feststellen, dass es sich bei den technischen Features wie Halbhirnschlaf und oder wärmeableitende Füße um Vermutungen handelt, die beim Mauersegler wissenschaftlich bislang niemals nachgewiesen wurden. Und beim Magnetsinn zweifelt die Wissenschaft gerade grundsätzlich, ob er überhaupt existiert. Es mehren sich die Hinweise, dass sich Vögel auf ihrem Flug um den halben Erdball an Gerüchen orientieren. Mit einem Wort: Nichts Genaues weiß man nicht.
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Und dennoch haben Sie sicherlich meine Ausführungen Wort für Wort für bare Münze genommen. Der Grund liegt daran, dass Begriffe wie „Halbhirnschlaf“ und „Magnetsinn“ gelernt sind und deshalb nicht mehr hinterfragt werden. Sie gaukeln die Evidenz eines Begründungszusammenhangs vor, den sie nicht notwendig haben. Das ist aber auch nichts Schlimmes. Eine Erzählung, die sich nur auf 100%ig Bewiesenes stützte, käme gar nicht erst zustande. Die Wissenschaft spricht seit den 1960er Jahren mit größter Selbstsicherheit von Magnetsinn, ohne ihn jemals nachgewiesen zu haben. Gefangen in ihren eigenen Mystifizierungen, fahndet die Wissenschaft nun in den Tierkörpern gezielt nach Metallen, die diese Hypothese bestätigen. Indem ich nun diese Vermutungen in eine nachvollziehbare Erzählung zusammenfasse, erschaffe ich eine Realität in Ihrem Bewusstsein. Und indem ich also so verfahre, handle ich – wie ich im Übrigen auch handle, indem ich meine eigene Erzählung am Ende wieder desillusioniere. Und wenn ich Sie trotz allem zu heimlichen oder offenen Bewunderern der Mauersegler machen konnte, dann habe ich nicht nur gehandelt, sondern sogar ein gutes Werk getan. Denn die Flugkünstler werden auch weiterhin mit begeisternder Akrobatik durch die Luft schießen – und durch einen Äther aus Mutmaßungen.