Noch sind wir nicht ganz durch mit unserer Bachstelze, die sich ja – wie wir gesehen haben – Tag für Tag dem irritierenden Umstand ausgesetzt sieht, mit den unterschiedlichsten Namen angesprochen zu werden. Ob Wippkestiärtken, Wagtail, Bergeronette, Motacilla alba oder Akkermantje – sobald sie von einem Sprachraum in den nächsten wechselt, muss sie sich immer wieder eine andere Bezeichnung gefallen lassen. Diese Vielfalt nun, so hatte ich es in meinem letzten Post behauptet, ist Ausdruck für die Beliebigkeit, mit der wir die Dinge bezeichnen. Es gibt einfach keinen naturnotwendigen Zusammenhang zwischen Bezeichnung und dem Bezeichneten. Bleibt dennoch die Frage, warum diese Namen für uns gar nicht so beliebig daherkommen und absolut zu passen scheinen. Das hat mit einem ganz einfachen Sachverhalt zu tun: Wir können gar nicht anders, als Unbekanntes mit Hilfe der Kenntnisse und Erfahrungen zu begreifen, die wir bereits gesammelt haben. Wer den zuvor unbekannten Nicolas Sarkozy zum ersten Mal sah, war durchaus geneigt, ihn als Wiedergänger von Stan Laurel zu interpretieren. Und wer zum ersten Mal in seinem Leben Freiherr von und zu Gutenberg erblickte, musste in ihm den jüngeren Bruder von Lothar „Uns-Loddar“ Matthäus entdecken. Schicksale gibt´s…
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Ähnlich verhält es sich mit Wortschöpfungen für bisher Unbezeichnetes. Bei der Benennung greifen wir auf Begriffe zurück, die bereits gelernt sind, und übertragen ihre Bedeutung auf das neu zu Benennende. Stellen wir uns nur kurz einen Menschen vor, der eine Bachstelze zum ersten Mal sieht. Vielleicht nimmt er sie zunächst nur beiläufig wahr. Weil sie aber von nun an immer wieder in seinen Gesichtskreis gerät, entwickelt sie sich zu einem wiederkehrenden Muster innerhalb seiner Lebenswirklichkeit, das geradezu nach einem Namen „schreit“. Instinktiv greift dieser Mensch nun in seinen Instrumentenkasten bereits festgelegter Bedeutungen und sucht sich das – seiner Meinung nach! – Passende für dieses neue „Etwas“ heraus. Und so kommt es zur Übertragung von bestehenden Bedeutungen auf ein zuvor namenloses Objekt. Bei der Neuschöpfung eines Wortes handelt es sich also um einen metaphorischen Vorgang (gr. metà phérein für anderswohin tragen). Das Akkermantje und die Bergeronette („kleine Schäferin“) sind Beispiele für diese Form der Metapher. (Bei der „Bachstelze“ verhält es sich etwas anders: Sie stellt eine Zusammensetzung (ein so genanntes Kompositum) aus den Hauptwörtern „Bach“ und „Stelze“ dar. Diese Wortschöpfungen sind dazu da, sie von Phänomenen ähnlicher Beschaffenheit abzugrenzen – die Bachstelze etwa von der Schafstelze, die Sie im Übrigen auf dem obigen Foto abgebildet sehen. Das Grundwort selbst jedoch – die „Stelze“ – stellt wiederum eine Metapher dar.
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Das Neue wird also aufgrund der – empfundenen – Ähnlichkeit mit bereits Bekannten benannt. Das ist der Grund, warum eine Bezeichnung für uns als so zwingend erscheint, obwohl sie von außen betrachtet absolut beliebig ist. Damit steht also fest: Wenn wir sprechen, benutzen wir – ohne es zu merken – permanent Metaphern. Lesen wir hierzu nun einmal folgenden Satz: „Nach einer Diskussion in der Zentrale erfuhr Sarah von der radikalen Entscheidung des Kontrollgremiums, ihren prominenten Rivalen – dessen Sarkasmus sie oft zur Verzweiflung gebracht hatte – zu suspendieren.“ Ein normaler Satz ohne einen Hauch dichterisches Esprits. Wo bitte schön, fragen Sie sich deshalb vielleicht, finden sich denn hier Metaphern? Die folgende kleine Auflistung an Begriffen, die dem gerade zitierten Satz entnommen sind, inklusive ihrer ursprünglichen Bedeutung macht es deutlich:
Begriff Ursprüngliche Wortbedeutung (Etymon)
Diskussion Zerlegung
Zentrale Stachel
Erfahren reisen, durchfahren
Radikal Wurzel
Entscheiden teilen, voneinander trennen
Kontrolle Gegen-Rolle, ein zweites Register in der Buchhaltung
Gremium Schoß
Prominent hervortreten
Rivale jemand, mit dem man sich den heimischen Bach teilt
etc.
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Es wird deutlich, dass wir die Begriffe, die wir heute wie selbstverständlich nutzen, nicht mehr in ihrer anfänglichen Bedeutung wahrnehmen. Der immer wiederkehrende Gebrauch hat ihren ursprünglichen Gehalt abgeschliffen und durch eine neue Bedeutung ersetzt. So denkt man bei dem Wort „Gremium“ heute nicht mehr an einen Schoß, sondern an einen wohltemperierten Meetingraum mit schnieke angezogenen Herr- und Frauschaften. Erst die Gegenüberstellung der Begriffe mit ihrem jeweiligen Etymon macht deutlich, dass aus einer – wie auch immer empfundenen – Strukturähnlichkeit zwischen zwei Sachverhalten eine begriffliche Übertragung stattgefunden hat. Dieser Vorgang der Metaphorisierung ist ein wesentlicher Motor der Spracherneuerung – wie auch der gute alte Nietzsche empfindet: „Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.“ Gut geschimpft. Der Vorgang der Metaphorisierung ist wie ein ewig sprudelnder Quell, der auf Grundlage des bestehenden Wortmaterials immer neue Worte produziert, die ihrerseits in diesen Wasserkreislauf eingehen, um neue Wörter, immer neue Wörter hervorzubringen.
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Gehen wir nun aber die ganze Entwicklung zurück an den Anfang, steht uns dieser Mechanismus mit einem Male nicht mehr zur Verfügung. Denn das erste Wort der Menschheit hat ja – logisch! – kein Vorläufer-Wort. Wie zum Teufel ist denn dann das erste Wort entstanden? Stellen wir uns einmal einen homo erectus vor, der ein Ding in der Nähe sieht und es in seinen Besitz nehmen will. Er stupst seinen Nachbarn an, zeigt mit der Hand drauf und stößt einen Laut aus. Den gleichen Vorgang kann er wiederholen mit dem jedem anderen Ding in seiner Nähe: Der Laut bleibt sich immer gleich, ist also unspezifisch. Was ist aber, wenn der homo erectus ein Ding außerhalb seines Sichtbereiches haben möchte? Die zeigende Geste verliert ihre Funktion, der Laut entkoppelt sich von der unmittelbar gegebenen Situation und erfordert nun eine genau definierte und reproduzierbare Lautfolge. Damit wird dieser Laut zum Sinnträger. Sicher: Dieser Vorgang hat nicht von gestern auf heute stattgefunden, sondern mag sich über einen Zeitraum von rund 1 bis 2 Millionen Jahren entwickelt haben. Ein Zeitraum, in dem zudem wichtige Voraussetzungen geschaffen werden mussten. Zum Beispiel die innere Gewissheit, dass es Dinge gibt, die sich gerade nicht in meinem Gesichtskreis befinden. Oder die Fähigkeit, Dinge als Dinge zu erkennen und sie von anderen zu unterscheiden. Oder die Sicherheit, dass diese Dinge für mich verfügbar sind. Oder das Wissen, dass mich meine Leute auch verstehen, wenn ich mich lautlich äußere. Oder die Bereitschaft meiner Leute, meine Autorität anzuerkennen, dem eine solche Äußerung zusteht. Kurz: Die Entwicklung von Sprache, sozialer Interaktion, (Selbst-)Bewusstsein und Gedächtnis ist ein sich gegenseitig unterstützender Prozess, an dessen Ende es endlich vor uns steht: Das erste Wort der Menschheit.