Während ich auf meinem Balkon sitze, fordert ein in irgendeiner Baumkrone verborgener Zilpzalp meine ganze Aufmerksamkeit. Mit seinem unentwegten zilp zalp zilp zalp reißt er mich aus dem Vorhaben heraus, in aller Ruhe einen Text über einen Zilpzalp zu schreiben. Wie er mit diesem nervtötenden Ostinato ein Weibchen rumkriegt, muss ein Rätsel bleiben… Im Übrigen auch, dass in jedem einigermaßen verständigen Text stumpf behauptet wird, dass der Name Zilpzalp der perfekte Ausdruck für seinen charakteristischen Gesang sei: „Der Zilpzalp singt, wie er heißt“, lässt sich Wikipedia vernehmen. Wer genau zuhört, kann das nicht wirklich bestätigen. Weder intoniert der Zilpzalp ein „z“ noch ein „l“ oder ein „p“. Das einzige, das einigermaßen den Realitäten entspricht, ist die Aufeinanderfolge kurzer identischer Lautgruppen, die unser Freund in alternierender Tonhöhe anstimmt. Dies drückt der Name Zilpzalp durch die abwechselnden Vokale „i“ und „a“ aus. Aber ganz ehrlich: Ein „a“ kommt in dem Gesang nicht vor. Und das „i“ … ja gut, mit gutem Willen kann man den einen oder anderen Laut tatsächlich als „i“ interpretieren.
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Es ist nichts Neues: Wir erfassen die Welt mit Hilfe der Sprache. Das gilt für Dinge, die sich ohne einen charakteristischen Laut bemerkbar machen. So bezeichnen wir einen Baum – ohne ihn noch vorher um Erlaubnis zu fragen – als Baum. Aber selbst da, wo uns eine charakteristische Lautfolge zur Verfügung steht, der uns einen Anknüpfungspunkt für die Namensbildung bietet, überführen wir sie – und können es auch gar nicht anders – in unser System aus 26 Buchstaben. Und so entsteht ein Name wie Zilpzalp, den die Engländer im Übrigen als Chiffchaff bezeichnen. Zudem sind dieselben Engländer fest davon überzeugt, dass ein Hahn die Lautfolge „cook-a-doodle-do“ von sich gibt. Die Franzosen hingegen neigen eher zu einem „Cocorico“, während nur wir Deutschen es ganz genau wissen, dass der Hahn uns allmorgendlich mit einem „Kikeriki“ begrüßt. Logisch, hört man doch…
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Wie groß die Lücke zwischen außersprachlichem Laut und sprachlicher Nachahmung ist, zeigt sich besonders dann, wenn sich die Wissenschaft um die möglichst exakte Beschreibung von Vogelrufen und -gesängen bemüht. Wenden wir uns einmal den lautlichen Äußerungen eines Vogels zu, den Sie sicherlich kennen und bereits 1000mal in ihrem Garten haben singen hören: „Häufige Rufe: tief „pok“; während des Zugs gedämpft, fein rollend „sriii“; erregt rotkehlchenartig fein „tsiiih“; hart schnalzend „tjack-ack-ack-ack…“; warnend gegenüber Katze oder Eule, auch vor Aufsuchen des Schlafplatzes, metallisch hoch „pli-pli-pli-pli-pli…“, das (oft beim Abfliegen) in Crescendo umschlägt“. Nicht erkannt, den Vogel? Obwohl die sprachliche Beschreibung doch durch höchste Detailgenauigkeit glänzt? Nun, dann sei es hier verraten: Es handelt sich um die Amsel. Deshalb jetzt mal frei nach Loriot: Außersprachliche und sprachliche Laute passen einfach nicht zusammen. Ein Zilpzalp – würde er genauso singen, wie wir es ihm unterstellen – wäre eine wissenschaftliche Sensation, weil er damit der einzige Vogel auf dem ganzen Erdenrund wäre, der das menschliche Alphabet beherrscht. Unser Sprachdenken ist so dominant, dass wir die erheblichen Verfälschungen nicht wahrnehmen, die durch die Einverleibung außersprachlicher Laute in unser Sprachsystem entstehen.
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Die Grundkategorie, nach der Laute in unser Sprachsystem einfügen, ist in diesem Zusammenhang der Buchstabe. Darüber lagern weitere Kategorien-Systeme, die ebenfalls die Realität verfälschen oder – sagen wir es weniger vorwurfsvoll – konstruieren. Um nur einige dieser Systeme zu nennen:
- Wort-Kategorien: Die „Explosion“ – die Substantivierung des Verbs „explodieren“ – macht aus einem hochdynamischen Geschehen ein statisches Ding. In derselben Weise wird ein „nichts“ zum „Nichts“, das uns bereits seit vielen Jahrhunderte mit der Frage nervt, ob es existiert oder nicht. Das „Nichts“ wird sprachlich zu einem Etwas.
- Grammatikalische Kategorien: Das Präsens „ist“ in dem Satz „Sarah ist 12 Jahre alt“ wird grammatikalisch nicht anders gebildet als „2 und 2 ist 4“. Während der erste Satz einen zeitlich begrenzten Tatbestand beschreibt, handelt es sich bei dem dem zweiten um eine zeitlose Wahrheit. Andere Sprachen – etwa das Türkische oder Hebräische – haben dafür eine eigene Kategorie: das Extratemporale, ein Verb ohne Zeitfunktion.
- Berufliche Kategorien: Der Betreiber eines Sägewerks fasst einen Baum anders auf als ein Ökologe. Hier wirkt eine „deformation professionelle“, wie der Publizist Henrik M. Broder es formulieren würde, ein Schema, mit dem wir die Welt vor dem Hintergrund der eigenen beruflichen Kategorien deuten.
- Emotionale Kategorien: Der Neurobiologe Antonio Damasio weist darauf hin, dass wir unsere Sinnesempfindungen immer sofort mit Emotionen impfen. Den Gesang eines Zilpzalps konnotieren wir je nach Tagesverfassung mit Freude oder mit Ärger. Und so wird unser Verhältnis zum Zilpzalp für eine lange Dauer geprägt.
- Kulturelle Kategorien: Der Philosoph Ernst Cassirer weist mit Recht daraufhin, Mythos, Religion, Kunst, Geschichte oder Wissenschaft symbolische Formen sind, mit denen wir die Welt deuten. In der Religion wirken moralische Kategorien, in der Naturwissenschaft die Kategorie der Kausalität. Und so weiter.
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Das solls nun fürs Erste in Sachen „Kategorien“ gewesen sein. Beim nächsten Post werde ich dieses Thema weiterführen. Bis dahin lautet mein ganz persönlicher kategorischer Imperativ: Handle so, dass Du die Menschen nicht durch zuviel Text vom Lesen abhältst. In diesem Sinne: Einen schönen Tag noch!