Was ein Paar Schuhe mit unserer Sprache zu tun hat

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Was macht man in der frühen Neuzeit als wohlhabender Bauersmann mit einem Sohn, der immer kränkelt und deshalb absehbar zu schwach ist für die harte Feldarbeit? Man gibt ihn – logisch – in eine Schusterlehre. So ist es zumindest dem späteren Mystiker Jacob Böhme widerfahren. Und der tat, wie ihm geheißen: Er erlernte seinen Beruf von der Pike auf und wusste schon bald mit wachsender Kunstfertigkeit einen Bundschuh und einen Schnabelschuh ebenso zu erschaffen wie einen Wendeschuh und einen Kuhmaulschuh. Und wie er hierbei so emsig seinem Handwerk nachging, lernte er gleichzeitig wie nebenbei so richtig was fürs Leben. Denn während Böhme noch am ersten Treter arbeitete, wusste er, dass bereits der zweite auf ihn wartete. Denn einem Kunden nur einen zu verkaufen, das ging so gar nicht. Zu dem, was man Schuhe nennt, gehören immer zwei. Das eine Stück zieht unweigerlich immer sein Gegenstück nach sich, und nur zusammen bringen sie einen Sinn in und für die Welt.

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Es mochte diese Erfahrung sein, die dem Denken des von vielen späteren großen Geistern so bewunderten Denkers die entscheidende Grundierung gab. Denn wie Böhme bei seinen Schuhen als unumstößliche Wahrheit gelernt hatte, war er nun auch bei der Betrachtung seiner Welt wie besessen von der Einheit in den Gegensätzen: „Es ist ja Böses und Gutes in der Natur“, so schrieb er einmal und folgerte messerscharf: „Weil denn alle Dinge von Gott kommen, so muss ja das Böse auch von Gott kommen“. Und es sind gerade die Gegensätze, die die Bewegung in die Welt setzen: „Die bittere Qualität ist auch in Gott, aber […] als eine ewigwährende Kraft, ein triumphierender Freudenquell“. Ja, man kann es gar nicht anders sehen: Böhme war ein ausgesprochener Dialektiker und es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade Hegel ihn zum „ersten deutschen Philosophen“ ernannte.

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Böhme war allerdings nicht der erste seiner Art. Das Verdienst, das dialektische Denken in die Welt gebracht zu haben, kann sich Heraklit ans Revers heften. Und für den alten Griechen war es wahrlich nicht schwer, auf diesen Trichter zu kommen. Er musste nur in seinen polytheistischen Himmel schauen und sehen, wie die Götter gegeneinander intrigierten und sich ans Leder gingen. Gegensätze, die in der Welt der Menschen einen sehr wirklichkeitsgetreuen Widerhall fanden. Bei den Griechen kamen die irdischen Widersprüche tatsächlich von ganz oben, aus dem Olymp. Und damit auch das Böse. Göttervater Zeus war ein Fremdgänger allererster Güte und verliebte sich darüber hinaus in seinen Sohn Ganymed. Uranos hatte Sex mit seiner Mutter Gaia, weshalb Kronos ihn mit Hilfe einer Sichel entmannte. Dionysos schlug Lykurgos mit Wahnsinn, der daraufhin seine Verwandten und Freunde umbrachte. Sie sehen, den griechischen Göttern war nichts Irdisches fremd. Heraklit musste also eigentlich nur den Himmel abmalen, um zu seinem universalen Bewegungsprinzip zu kommen – nämlich, dass der Streit der Vater aller Dinge ist.

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Als Böhme das Licht der Welt erblickte, waren die alten Götter längst vertrieben und an ihre Stelle der eine Gott getreten, der in sich ungeschieden war und deshalb eine ungeteilte Qualität in sich trug: die Allgütigkeit. Wie sollte so ein Wesen Ursache des Bösen sein? Und dennoch existierte – das war so klar wie das Amen in der Kirche – das Böse. Um dieses Problem zu lösen, erfand die Bibel die Figur des Luzifer, der sich an die Stelle Gottes setzen wollte und wegen dieser Anmaßung mit dem Fall in die Hölle bestraft wurde. Dort treibt er sein Unwesen bis auf den heutigen Tag und wirkt unentwegt mit Störfeuern in das Weltgetriebe hinein, die allesamt einen Namen haben: Das Böse. Der liebe Gott indes hält sich fein raus und tut so, als habe er mit all dem nichts zu tun. Aber nicht mit Böhme. Er bediente sich des Neuplatonismus, um den lieben Gott wieder in seine ungeschmälerte Verantwortung für seine gesamte Schöpfung – für das Gute und das Böse – einzusetzen. Demnach ist Gott das ungeschiedene Eine, dessen innerer Reichtum unstillbar überströmt und sich in die hierarchisch untergeordneten Seinsebenen ergießt – und damit auch in unsere materielle Welt. Damit war das Problem gelöst. Was auf der obersten Ebene Einheit ist, präsentiert sich in unserer Welt als eine gegeneinander gesetzte Vielheit, die auch das Böse umfasst.

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Einheit und Vielheit, Identität und Differenz: Das sind die beiden Pole, mit denen wir uns die Welt erschließen. Immerzu sind wir dabei, die Dinge nach Ähnlichkeiten oder Unterschieden zu sortieren. Daran hat sich seit Heraklit bis auf den heutigen Tag nichts geändert. Was unterscheidet einen grünen Ball von einem roten Ball? Richtig: die Farbe. Was unterscheidet einen grün gepunkteten Ball von einem rot gestreiften Ball? Die Farbe und das Farbmuster. Was unterscheidet einen grün gepunkteten Ball von einer rot gepunkteten Quietsche-Ente? Die Farbe, das Farbmuster und die Form. Diese Art des Abgleichs erfolgt also durch die Gegenüberstellung positiver Qualitäten (Farbe, Form, Muster) – allerdings nur oberflächlich betrachtet. Denn darunter wirkt die wirklich fundamentale Unterscheidung – nämlich die zwischen gleich und ungleich, ja und nein, eins und null. Denn ich muss erst die Wesensverschiedenheiten zwischen den Anmutungen empfinden und als solche bewerten, ehe ich sie positiv mit Namen belegen kann, z. B. mit den Adjektiven „rot“ oder „grün“.

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Amöben unterscheiden knallhart zwischen Stoffen, die sie in sich aufnehmen, und denen, die draußen bleiben müssen. Ja oder nein. Die ersten Vorläufer unserer hochkomplexen Augen waren lichtempfindliche Zellen, die nur zwischen hell und dunkel zu unterscheiden wussten. Ja oder nein. Entscheidungen, die wir treffen, greifen sich ein Merkmal heraus und sortieren unterschiedslos alle anderen aus. Ja oder nein. Unser Weltverhalten fußt auf unentwegten Ja-/Nein-Operationen und präfiguriert unsere Weltdeutung. Das Mechanische dieser Vorgehensweise verspüren wir bei alledem allerdings nicht – und zwar aus mindestens drei Gründen: Wir sind 1. in dieses Denken hineingeboren und haben es wie mit der Muttermilch aufgesogen. Zudem haben wir 2. bereits eine unüberschaubar große Vielfalt an Unterschieden in unser Weltbild eingefügt, so dass wir die Gegensätze, die wir zwischen den Dingen aufbauen, nicht mehr als so harsch empfinden. Und 3. laden wir diese sprachlich mit positiven Qualitäten auf: rot, grün, gelb, blau, lila, etc statt geistloser Ja-/Nein-Endlos-Schleifen.

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Vor diesem Hintergrund kann man jeden Satz als Ergebnis von Ja-/Nein-Entscheidungen betrachten. Wenn ich sage: „Peter sitzt auf der Mauer“, dann sage ich zugleich, dass ich nicht Chantal meine, die neben dem Hund läuft, und nicht Kevin, der unter dem Baum liegt. Platon hat den Kern der Sache zumindest halb erfasst, wenn er in seiner Schrift Kratylos das Wort als „wesensunterscheidendes Instrument“ definiert, dessen sich der Mensch bedient wie der Handwerker seiner Arbeitsgeräte. Für ihn ist das Reden und Benennen wie das Bohren, Schneiden oder Weben, mit denen der Mensch die Realität gestaltet. Das macht Platon nicht unbedingt sofort zum Konstruktivisten. Denn als eingefleischter Idealist nimmt er an, dass Worte sich nur dann als treffend erweisen, wenn sie die Welt adäquat abbilden. (Welch irrsinniger Zirkelschluss dem zugrunde liegt, muss wohl nicht gesondert dargelegt werden). Dennoch bleibt es bemerkenswert, dass auch bei Platon die Sprache dem menschlichen Geist nicht via Standleitung zur Welt der Ideen automatisch eingegeben wird. Vielmehr ist sie Ausdruck einer kognitiven Leistung des Menschen, deren Ergebnisse er den Dingen und Tatsachen hinzugesellt. Ansonsten kann er sich nicht erklären, wie der Gebrauch der Sprache zuweilen auch zu Irrtümern und Trugschlüssen führen kann. Deshalb bleibt am Schluss die Frage: Ist Platon am Ende nicht doch ein verkappter Konstruktivist? Zumindest ein bisschen?