Wer schreibt, der bleibt. Die Macht des Statements.

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Die Sorgfalt war schon enorm, mit der der liebe Gott die Dinge und Wesen erschuf. Einfach nur alles mal so raushauen, war nicht sein Ding. Er musste immer auch prüfen, ob das, was er da so ins Leben rief, auch wirklich „gut war“. Und dennoch: Trotz aller Akribie ist ihm da offensichtlich was durch die Lappen gegangen. Denn eine weitere seiner Schöpfungen – die 10 Gebote – waren einem Medium eingeschrieben, das sich als nicht wirklich robust erweisen sollte. Schon beim erstbesten Wutausbruch des Moses zersprang es in tausend Stücke. Dabei hatte der liebe Gott doch nur einen seiner Vorgänger kopieren müssen, und alles wäre wirklich gut gewesen… Denn weit, sehr weit vor Niederschrift der 10 Gebote ging ebenfalls ein Gott daran, den Menschen mit Hilfe seines Stellvertreters Hammurapi ein Gesetz zu geben – und stellte sich bei der Auswahl des Trägermediums deutlich weitsichtiger an. Der babylonische Sonnengott Šamaš ritzte sein Gesetz in eine Stele aus Diorit. Härter als Granit, war diese mit keinem noch so prophetischen Zorn kleinzukriegen. Deshalb hat der sogenannte Codex Hammurapi die Jahrtausende überlebt und ist heute im Louvre zu bewundern.

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Aber wie auch immer: Ob Jahwe mit den 10 Geboten oder Šamaš mit seinen Gesetzestexten: Für die Götter des Altertums gingen Sprache und der Werkstoff Stein offenbar hervorragend zusammen. Oder genauer: Für ihre Stellvertreter – Hammurapi einerseits und die versammelte Priesterschaft des antiken Judentums andererseits. Ist ja auch kein Wunder. Die mittels Sprache fixierten Gesetze waren die zentralen Ordnungsfaktoren der Gesellschaft und deshalb ein bedeutendes Machtinstrument. Weil die Macht der Herrschenden ungetrübt für alle Zeiten Bestand haben sollte, waren auch die Gesetze für keine geringere Zeitspanne als für die Ewigkeit gedacht und mussten deshalb auf etwas fixiert sein, dessen Haltbarkeitsdatum ebenfalls auf Sankt Nimmerleinstag festgelegt war. Diorit zum Beispiel. Und so versammelte sich das Volk um die Stele und richtete sich auf sie aus.

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Wobei – nebenbei gesagt – die 10 Gebote eher aus einer intuitiven Moral hervorgehen und für die Untertanen um ein Vielfaches leichter zu akzeptieren waren als der Gesetzestext aus Babylon, der durchaus mit seltsamen Bestimmungen aufwartet:

  • 108 Gesetzt, eine Bierschenkin hat als Bezahlung des Bieres Getreide nicht angenommen, nach dem großen Gewicht Geld angenommen. und (oder) den Wert an Bier geringer gemacht im Verhältnis zu dem Wert des Getreides, so wird man jene Bierschenkin überführen und ins Wasser werfen.
  • 109 Gesetzt, im Hause einer Bierschenkin haben sich Verbrecher zusammengetan und sie hat jene Verbrecher nicht festgenommen, nicht zum Palast gebracht, so wird selbige Bierschenkin getötet.
  • 110 Gesetzt, eine Hierodule, eine Gottesherrin, die nicht im Kloster wohnt, eröffnet ein Bierhaus, oder ist in ein Bierhaus zu Bier gegangen, so wird man jene Frau verbrennen.

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Kein Witz: So legt es die Gesetzesstele fest. Instinktiv fragt man sich, warum sich der Sonnengott Šamaš (mit kräftiger Unterstützung von König Hammurapi) so ausgefeilte Gedanken über den kostbaren Gerstensaft im Allgemeinen macht – und über Bierschenkinnen im Besonderen! In einem zweiten Schritt fragt man sich dann noch, warum die eine Bierschenkin ins Wasser geworfen, die andere getötet und die dritte verbrannt wird. Fragen, die nicht notwendig einer logischen Begründung zugänglich sind. Willkür aber führt in der Regel zu renitentem Verhalten. Deshalb müssen solche Texte über „Geschmacksverstärker“ verfügen, die Widerstand gar nicht erst aufkommen lassen. Der Gottesbezug, der ja nichts anderes ist als eine recht vollmundige, in Sprache gepackte Behauptung, war ein solcher. Er machte die Texte bekömmlicher und die Menschen eher bereit, diese Gesetze fraglos zu internalisieren. Schon in der zweiten Generation schwindet die Renitenz, da die Nachkommen die Regeln nicht mehr per Verstand, sondern mit der Muttermilch aufnehmen. Das Leben mit und nach dem Gesetz wird zur zweiten Natur. (Das ist der Grund, warum die Menschen ab diesem Zeitpunkt bei Übertretungen der Normen und Gesetze mit Empörung, Abwehr und moralischer Verurteilung reagieren. „So etwas tut man nicht“, sagen wir dann. Oder: „Das geht doch gaaaaar nicht“. Oder: „Menno“. Aber das nur am Rande.)

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Zum Glück haben sich die Zeiten geändert. So halten sich die Leute, die heute Texte für die Öffentlichkeit herstellen, nicht mehr für Götter (zumindest nicht alle). Auch nutzen sie kein Gestein mehr, um ihre Gedanken zu fixieren (weil für Datenversand einfach denkbar ungeeignet). Und dennoch scheinen alle, die Texte verfassen, um sie unaufgefordert an die Öffentlichkeit zu geben, von einem Schriftglauben beseelt, der dem eines Martin Luther in nichts nachsteht (mich eingeschlossen). Dahinter scheint die Annahme zu stehen, dass das, was ich denke, an Realität gewinnt, wenn es schwarz auf weiß fixiert ist. Der flüchtige Gedanke verobjektiviert sich: Er tritt dem Denkenden gegenüber und wird wirklich. So gesehen produziert jeder Schreiber seine ganz eigene Gesetzesstele, an deren Wortlaut zunächst einmal nur einer sich gebunden fühlt: Er selbst. Er hält in diesem Moment für Wahrheit, was seine Wahrheit ist.

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Und weil das so ist, erblickt mit dem Akt der Veröffentlichung zugleich ein doppelter moralischer Anspruch das Licht der Welt: 1.) dass möglichst viele Menschen mein weltwichtiges Anliegen zur Kenntnis nehmen mögen und 2.) dass das Volk sich hernach um diese neue Gesetzesstele versammelt. Und das tut es auch – aber nicht immer in dem gewünschten Sinne. Denn die einen befürworten das, was da steht, die anderen kritisieren es und den dritten geht es am Allerwertesten vorbei, (was aber eben auch eine Reaktion auf das Geäußerte ist). Auf eine Stele, die keinen Text aufweist, werden die Menschen nicht annähernd die skizzierten Reaktionen zeigen – es sei denn, dieses wortlose Objekt ist selbst schon wieder in ein Cocon aus Sprache und Bedeutung-tragenden Zuschreibungen eingehüllt. Das, was sprachlos bleibt, bleibt unbedeutend. Nur Sprache schafft es, die Menschen – in welcher Form auch immer – zu bewegen. Deshalb ein kleiner Tipp für alle Möchte-Gern-Hammurapis dieser Welt: Produziert Eure Text-Stelen, wie auch immer Euer Sinn steht. Ihr könnt sicher sein, dass sich das Volk danach ausrichtet. Denn nur wer schreibt, der bleibt.