Ursprünglich stand die Naturwissenschaft, die Beschäftigung mit der Natur, nicht im Gegensatz zur Religion. Das Gegenteil ist der Fall: Beide entspringen an der Schwelle zur menschlichen Hochkultur einer kulturellen „Ursuppe“, in der die unterschiedlichen Bereiche menschlicher Tätigkeit noch nicht voneinander geschieden waren und sich erst sukzessive voneinander differenzierten. Spätestens seit einem Wort von Augustinus war es allgemeine Überzeugung, dass sich der liebe Gott nicht allein in den heiligen Schriften offenbart hat, sondern auch in seiner Schöpfung. Das „Buch der Natur“ erhielt damit den Status einer zweiten Bibel. Deshalb hatten führende Kleriker des Mittelalters keine Probleme damit, sich mit naturwissenschaftlichen Dingen auseinanderzusetzen. So etwa Nicolaus von Cues, der sich intensiv mit mathematischen Fragestellungen beschäftigte. Oder Dietrich von Freiberg, der eine Lichttheorie entwickelte. Zu nennen ist auch Konrad von Megenberg, der ein naturwissenschaftliches Werk veröffentlichte, dessen Titel sich auf das Diktum des Augustinus bezog: „Das Buch der Natur“. Aber auch später, als die Naturwissenschaft eine zunehmende Eigenständigkeit gegenüber der Scholastik gewinnen konnte, stand sie in hübscher Eintracht mit der Religion. Dafür stehen Naturforscher wie René Descartes, Isaac Newton oder Gottfried Wilhelm Leibniz.
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Die freie Beschäftigung mit der zweiten Bibel war so lange kein Problem, solange sie den Lehren der ersten Bibel nicht widersprach. Oder besser: solange sie der kirchenoffiziellen Lehre nicht widersprach. Diese Präzisierung ist wichtig. So stand das heliozentrische Weltmodell des Kopernikus ja ausschließlich im Widerspruch zum geozentrischen Weltmodell des Claudius Ptolemäus, nicht aber zur Bibel. Das konnte es auch nicht, weil das ptolemäische Weltsystem definitiv keinen Niederschlag in den Heiligen Schriften gefunden hatte. Die Crux: Die Kirche hat sich dieses zu eigen gemacht, weil es auf eine sehr anschauliche Weise die Vorstellung unterstrich, dass der Mensch – geduldig und gottergeben auf dem Zentralgestirn Erde hockend – die Krone der Schöpfung sei. Hinzu kam, dass der ptolemäische Entwurf die Planetenbahnen exakter voraussagte als der des Nikolaus Kopernikus. Es brauchte noch einer Zutat des Astronomen Johannes Keppler, um der kopernikanischen Lehre endgültig zum Durchbruch zu verhelfen. Denn Kepler bekam ein Zahlenwerk in die Hände, das der dänische Astronom Tycho Brahe in Prag im Zuge seiner Mars-Beobachtungen erstellt hatte. Auf dieser Grundlage begriff Kepler mit einem Male, dass die Planeten auf ihrer Wanderung keine kreisrunden, sondern elliptische Bahnen beschrieben. Das brachte die entscheidende Wende. Nun erwies sich das kopernikanische Weltmodell als deutlich überlegener als das des Ptolemäus.
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Damit brach der Konflikt zwischen Kirche und Naturwissenschaft offen aus. Hierbei ging es allerdings nicht so sehr um so Kinkerlitzchen wie Kreis versus Ellipse und helio- versus geozentrisch. Hier ging es um viel Größeres: um die Wahrheit selbst. Die Kirche hatte es im Laufe der Geschichte geschafft, die heiligen Schriften inklusive ihrer kirchenoffiziellen Deutung mit dem Begriff der Wahrheit immer weiter aufzuladen. Das ptolemäische Weltbild war in dieses Wahrheitskonzept eingepreist. Das hatte harsche Konsequenzen. Denn in dem Moment, in dem sich die Lehre des Ptolemäus als falsch erwies, stand eben nicht allein dieses Weltmodell in Frage, sondern gleich der universalistische Wahrheitsanspruch der Kirche selbst. Ebenso fatal: Die Wissenschaft ersetzt zunehmend die Religion als führendes Paradigma der Weltdeutung, indem es den holistisch angelegten Wahrheitsanspruch der Kirche adoptierte und mit neuen Inhalten füllte. Man muss nur die Chuzpe heraushören, mit der Laplace auf den Hinweis, sein fünfbändiges Werk über die Himmelsmechanik enthalte kein Sterbenswörtchen über Gott, vor Napoleon und seinen Generälen antwortete: „Ich habe dieser Hypothese nicht bedurft.“ Dieser Sound ist schon starker Tobak. Der heilige Ernst, der noch Martin Luthers Verteidigungsrede auf dem Wormser Reichstag prägte, ist hier völlig verflogen. Und der Biologe Thomas Henry Huxley – auch als „Bulldogge Darwins“ bekannt – setzt noch einen drauf, wenn er sagt: „Um die Wiege einer jeden Wissenschaft liegen erledigte Theologen herum wie die erwürgten Schlangen um jene des Herkules“.
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Dabei war das noch tiefgestapelt. Hier ging es nicht allein um Gottes Bodenpersonal. Es ging um die Oberherrschaft über den Himmel. Ernst Cassirer betont, dass das kopernikanische System eine der stärksten Triebkräfte des philosophischen Agnostizismus und Skeptizismus gewesen sei. Dies bewirkte zunehmend ein weltanschauliches Vakuum, das der Mensch nun mit ungebremster Selbstherrlichkeit zu füllen begann. So war sich der bereits erwähnte Kepler sicher, mit der Entschlüsselung der Naturgesetze halte der Mensch gleichsam das Lesegerät für die göttlichen Gedanken in den Händen. In dasselbe Horn stieß Galilei, der behauptete, das „Buch der Natur“ sei in der Sprache der Mathematik geschrieben. Damit „erreiche der Mensch den Gipfel des möglichen Wissens, ein Wissen, das dem des göttlichen Geistes nicht nachstehe.“ Eine Überzeugung, die die Naturwissenschaftler zu den legitimen Nachfolgern der erwähnten Theologen machten. Denn wie diese schreiten die Forscher nun im Gewande der Gottesfrömmigkeit einher, um ohne falsche Bescheidenheit öffentlich zu erklären, dass sie jederzeit exakt wissen, was Gott denkt oder gedacht hat. Der Naturforscher als neuer Priester. Diese Selbstüberhebung rief schon frühzeitig namhafte Kritiker auf den Plan. Der Philosoph Michel de Montaigne etwa schrieb mit geradezu alttestamentarischer Wucht: „Lässt sich etwas Lächerlicheres ausdenken, als wenn dieses elende und erbärmliche Geschöpf“ – gemeint ist der Mensch – „das nicht einmal seiner selbst Herr und von allen Seiten jeder Unbill ausgesetzt ist, sich für den Herrn und Meister des Alls ausgibt, von dem auch nur den geringsten Teil zu überschauen, geschweige denn zu beherrschen, nicht in seiner Macht steht?“
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Mit dem Begriff „Macht“ war die passende Duftmarke gesetzt. Vor diesem Hintergrund entfaltete Francis Bacon des Wissenschaftsprogramm der Moderne. In einem Aphorismus, den er seinem Werk Novum Organum vorangestellt hat, schreibt er: „Menschliches Wissen und menschliche Macht treffen in einem zusammen: denn bei der Unkenntnis der Ursache versagt sich die Wirkung. Die Natur kann nur beherrscht werden, wenn man ihr gehorcht; und was in der Kontemplation als Ursache auftritt, ist in der Operation die Regel.“ Diese Erkenntnis ist von genialer Klarheit. Sie besagt, dass Machtentfaltung nicht etwas ist, das der Naturwissenschaft äußerlich wäre. Sie erwächst aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis selbst. Indem der Mensch durch Beobachtung Ursache von Wirkung zu trennen versteht, wächst ihm organisch das Machtmittel zu, selbst Wirkungen hervorzurufen. Und es steht dem Wissenschaftler nicht frei, dieses Machtmittel zu nutzen oder nicht. Er nutzt es – und muss es nutzen. Im Rahmen der Grundlagenforschung dient es ihm dabei, noch tiefer in die Geheimnisse der Natur einzudringen. Der Large Hadron Collider (LHC) des CERN etwa ist Ergebnis einer praktischen Anwendung einer Unzahl an Ursache-Wirkungs-Beziehungen, um neue Wirkungen hervorzurufen, die sich aus dem Zusammenprall von subatomaren Teilchen ergeben. Im Rahmen der „Angewandten Wissenschaften“ dient es ihm, Technologien für die menschliche Praxis zu finden, sei es in der Medizin, in den Ingenieurswissenschaften, in der Unterhaltungselektronik & Co. – iPhone, Microchip-Implantat und Quantencomputer lassen grüßen.
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Kurz: Die „Wahrheit“ in jenem holistischen Sinne, wie wir diesen Begriff bis heute auffassen, ist uns auf unserem Weg durch die Weltgeschichte gründlich abhanden gekommen. Bewundern wir angesichts dieses Befundes die seherische Kraft des Dichters Novalis, der schon vor über 200 Jahren die bemerkenswerte Zeile schrieb: „Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur die Dinge“.