Wie sich die „Wahrheit“ einmal gründlich dekonstruierte

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Schöpfungsmythen haben in aller Regel etwas sehr Kreatürliches an sich. Nach dem Glauben der Bantu „wurde der gesamte Inhalt des Universums – Sonne, Sterne, Land, See, Tiere, Fische, Menschheit – buchstäblich von einem unter Übelkeit leidenden Wesen namens Bumba erbrochen“. Zugegeben: Nicht wirklich appetitlich, das Ganze. Aber durchaus ernst gemeint. Denn Mythen entstehen in einer Zeit, in der Mensch sich seiner selbst bewusst wird und eine Welt vorfindet, die voller unerklärlicher Sachverhalte und Vorgänge ist. Es ist wie mit dem Wort des frühchristlichen Philosophen Augustinus: „Unter dem Blick Deiner Augen bin ich mir zur Frage geworden“. Unter den Augen eines sich seiner selbst bewusst werdenden Ichs macht sich der Mensch selbst zur Frage: Wer bin ich? Wo bin ich? Wo komme ich her? Warum blitzt und donnert es? Warum ist alles genau so, wie es ist? Welchen Sinn hat diese ganze irdische Veranstaltung eigentlich?

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Schöpfungsmythen geben auf all diese Fragen eine Antwort und bieten damit Orientierung. Es handelt um so genannte Ätiologien, um Erzählungen, die erklären, warum alles auf Erden so eingerichtet ist, wie es ist. So wissen wir spätestens seit dem Schöpfungsbericht des Alten Testaments, wie der Mensch entstanden ist, warum es Mann und Frau gibt, warum der Mensch im Schweiße seines Angesichts der Natur seinen kärglichen Lebensunterhalt abtrotzen muss, warum die Frau Schmerzen bei jeder Geburt bekommt und weshalb wir sterben müssen. Schöpfungsmythen befriedigen das tief im Menschen eingepflanzte Interesse, Ursache-Wirkungs-Kausalitäten zu klären und vor allem die Angst vor dem zuvor Unerklärlichen zu bannen. Der evolutionäre Vorteil liegt auf der Hand: Befreit von aller Angst, richten wir unsere Energien Dinge, die der Mensch selbst in die Hand nehmen und verändern kann.

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Mythen entstammen ursprünglich einer mündlichen Überlieferung. Das gilt auch für die Texte der Bibel: Bevor sie „schriftlich fixiert wurden, wurden sie mündlich überliefert. Das Lagerfeuer auf dem Zeltplatz ist die Heimstädte der Tradition“, so Walter Beltz. Und an diesen Lagerfeuern passiert etwas Entscheidendes: Das Narrativ des Einzelnen wird zu einem Narrativ von mehreren. Damit bildet sich ein gemeinsamer kultureller Hintergrund, der die Menschen zunächst zu Stämmen, dann zu Völkern und letztlich zu übernationalen Einheiten zusammenbindet. Mythen setzen also für jeden Einzelnen, der sich in ihrem Bannkreis befindet, eine für alle gültige Ordnung. Yuval Noah Harari dazu: „Mythen und Märchen programmierten die Menschen darauf, fast von Geburt an auf eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln, bestimmte Dinge zu wollen und bestimmte Regeln zu befolgen. Damit schufen sie ´künstliche Instinkte´, mit deren Hilfe Millionen von Menschen effektiv zusammenarbeiten konnten“.

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In dem Maße, in denen die Populationen wuchsen, wuchs die Macht der jenseitigen Wesen – und ihr Wirkungskreis. Die verstorbenen Ahnen, die noch im Umfeld einer Sippe verehrt wurden, entwickelten sich zu Geistern, die die Natur beseelten und damit den engen Bereich der Sippe verließen. Diese wurden zu Göttern, die in den Himmel aufstiegen und zu Prinzipien wurden, die die Welt durchdringen. Am Ende dieser Kette steht der allmächtige Eingott, der den Kosmos erschaffen hat und für die ganze Menschheit verantwortlich ist. Dieser letzte Schritt führt zu einer qualitativen Veränderung des Wahrheitsbegriffs. Während die unterschiedlichen Geister und Götter für verschiedene Naturerscheinungen und Prinzipien stehen, die sich dann schon mal gegenseitig in die Quere kommen können, ist dieses Gegeneinander durch die Existenz nur eines Gottes aufgehoben. Seitdem gilt nur noch sein Wort, wie auch die Bibel weiß: „Denn des HERRN Wort ist wahrhaftig“. Und weil nur noch sein Wort gilt, gilt auch nur noch eine Wahrheit, die Wahrheit, die unumschränkte, absolute, ewige Wahrheit.

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Weil Gottes Wort die Wahrheit ist, nimmt es auch kein Wunder, dass Adam und Eva, obwohl gerade erst erschaffen, den Eindruck vermitteln, als ob sie ihren Schöpfer verstehen. Anstatt verständnislos zu fragen, was ein Baum ist, scheinen sie sogar zu begreifen, was ein Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen ist. Und zu einem Zeitpunkt, in dem sie von einem Baum noch nicht gegessen haben, der sie in die Lage versetzen würde, moralisch zu handeln, verlangt der liebe Gott genau das von ihnen: moralisch zu handeln – nämlich: nicht von den Früchten dieses Baumens zu essen. In unseren Augen ist das nicht wirklich fair, aber aus dem Blickwinkel der Sprachauffassung, die diesen Texten zugrunde liegt, nur konsequent. Adam und Eva sind – wie das Wort selber – göttlichen Ursprungs, beide sind damit von der derselben Wahrhaftigkeit umfangen. Für das semiotische Dreieck, das eine deutliche Unterscheidung macht zwischen dem Zeichen (Wort), dem Inhalt (Bedeutung) und dem Bezeichneten (Ding) und deshalb die Ursache für Missverständnisse und Fehldeutungen ist, ist hier also kein Platz.

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In der Folgezeit hat diese Sprachauffassung enorme Risse bekommen – und zwar von Beginn der redaktionellen Bearbeitung der biblischen Texte an. Der Textfund von Qumran hat der verblüfften Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass von den einzelnen biblischen Büchern des Alten Testaments gleich mehrere Versionen im Umlauf gewesen waren, die zum Teil stark voneinander abwichen. Die redaktionellen Bearbeiter, die die Texte zur Bibel zusammenfügten, mussten deshalb selbst entscheiden, welche Texte die göttliche Wahrheit trugen und welche nicht. Und auch später, als die Texte zueinander gefunden hatten und der Textkanon der Bibel bereits festgelegt war, wurde die Situation nicht besser. Einer der wirkmächtigsten Bibelübersetzer, Kirchenvater Hieronymus, musste leidvoll feststellen, dass in den Texten „schwerlich die Wahrheit anzutreffen ist. Wenn nämlich auf die lateinischen Texte Verlass sein soll, dann mögen sie bitte sagen: Welchen? Gibt es doch beinahe so viele Textformen, wie es Abschriften gibt.“ Richard Reschika dazu: „Wir haben es im Falle der Bibel zum Großteil mit einem kollektiven Werk, ja, mit einer ganzen Bibliothek zu tun, die über einen Zeitraum von über tausend Jahren langsam gewachsen ist und an der viele (zum Teil nicht mehr identifizierbare) Autoren, Redakteure, Übersetzer, Kompilatoren, Kopisten und Herausgeber beteiligt waren, bis sie um das Jahr 400 n. Chr. die heutige definitive (kanonische) Gestalt erlangt hat“. Kein Wunder, dass es mit der Wahrheit, die doch das Wort Gottes darstellt, nicht mehr weit her sein konnte.

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Und dennoch blieb die Bibel trotz dieser „babylonischen Sprachverwirrung“ auch weiterhin die einzige Quelle der ewigen Wahrheit. Eigentümlicherweise hielt die Geistlichkeit mit ihr jedoch alles im allem ziemlich hinter dem Berg. Denn nur sie kannte den kompletten Wortlaut der Schrift, weil sie in lateinischer Form vorlag. Der Klerus filterte den Text und gab dem Volk nur die Worte und Interpretationen, die es nach ihrem Dafürhalten hören sollte, und vermengte dies zudem mit Lehren, die nichts mit der Bibel zu tun hatten. Das war der Grund, warum Papst und Kirche unruhig wurden, als Martin Luther mit einer deutschen Bibelübersetzung aufwartete. Nun war das Wort Gottes für jeden zugänglich. Und siehe da: Die Menschen sahen auf einmal, dass zwischen dem Wort Gottes und der offiziellen Interpretation eine riesige Lücke klaffte. So war etwa das florierende Geschäft des Sündenablasses mit Hilfe monetärer Spenden durch keine Bibelstelle gedeckt. Auch, dass Maria als eine Heilige zu gelten habe, findet sich an keiner Stelle bestätigt. Ebensowenig, dass die Männer Gottes geweiht seien und ihnen deshalb ein natürliches Vorrecht vor den so genannten Laien zukomme. Und selbst dem Papst machte der Mann aus Wittenberg seinen Status als Oberhaupt der katholischen Kirche madig – auch dies selbstverständlich gestützt auf Grundlage der Heiligen Schrift. Logisch, dass der Papst schon bald zum Gegenschlag ausholte und Luther dazu aufforderte, seine Aussagen zu widerrufen.

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Der dachte jedoch nicht im Traum daran. Auf dem Wormser Reichstag im Jahre 1521 sprach er dann die bemerkenswerten Worte: „Wenn ich nicht durch die Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht; es steht fest, dass sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben -, so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte überwunden“. Diese Aussage markiert einen beachtlichen Vorgang: Neben das Wort Gottes als Quelle der Wahrheit tritt die Vernunft, die nur noch durch gute Gründe überzeugt werden kann. Die Kirche war ihrerseits nicht faul und legte auf dem Konzil von Trient (1545 – 1563) fest, dass die etablierte kirchenamtliche Deutung der biblischen Texte denselben Stellenwert hat wie die Heiligen Schriften selber. Mit anderen Worten: Auf der protestantischen Seite verbindet sich die Wahrheit mit der Vernunft. Auf der katholischen Seite verbindet sich die Wahrheit mit der kirchlichen Tradition der Schriftauslegung. Das heißt, die Wahrheit – die göttliche Wahrheit! – ist nicht mehr das entscheidende Kriterium in dieser Auseinandersetzung. Sie wird von beiden Seiten reklamiert und neutralisiert sich dadurch gegenseitig. Deshalb lässt sie sich getrost aus der Gleichung herauskürzen, so dass am Ende die protestantische „Vernunft“ gegen katholische Tradition steht.

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Dieser kurze historische Abriss zeigt, wie sehr der Begriff „Wahrheit“ seine selbst gesetzten Maßstäbe nicht einhalten kann. Dadurch entstehen unterschiedliche Wahrheitskonzepte, die miteinander in Konkurrenz treten. Dadurch delegitimiert – andere würden sagen: de-konstruiert – sich der absolut gesetzte Wahrheitsbegriff aufs Gründlichste. Und er erholt sich auch nicht, als die Wissenschaft damit begann, Kraft aus ihm zu saugen.