Ausweg aus dem Fliegenglas

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Ja, es gibt sie, die Welt außerhalb unseres Bewusstseins. An dieser Auffassung kommt man als Verfechter von Darwins Lehre – so behauptete ich es zumindest in meinem vorletzten Post – nicht vorbei. Doch so sehr auch vieles dafür spricht: Es handelt sich hierbei lediglich um eine hochplausible Annahme, nicht um einen Beweis. Denn Darwins Lehre ist ausschließlich Gegenstand meines Bewusstseins – wie übrigens alles in der Welt: mein Handy, das Gefühl von Durst, Helene Fischer, Harzer Käse, der liebe Gott, der BVB, der große Zeh meines linken Fußes, die Roman-Figuren Dostojewskis, fliegende Spaghetti-Monster, das Lächeln meiner Liebsten, bloggende Wutbürger, Toilettenpapier und vieles andere mehr. Und es gibt keine Möglichkeit, aus diesem Kopfkino auszusteigen. Und dies hat mit unserer Reizverarbeitung zu tun. Unser Körper nimmt Reize der unterschiedlichsten Art auf, übersetzt sie in elektrische und chemische Impulse, fügt die aus den unterschiedlichen Kanälen zuströmenden Informationen zusammen, filtert die meisten wieder aus, verbackt die verbleibenden untrennbar mit unseren Gefühlen und stellt uns dieses emotional-sensorische Gesamtpaket zuletzt frei Haus zu, so dass wir – sobald wir es mit unserem Bewusstsein öffnen – im Interesse unserer homöostatischen Balance reagieren können. Mit anderen Worten: Wie unterschiedlich die Reize auch sind, die da immerzu auf uns einprasseln: Sie gelangen in eine vorgegebene, immergleiche Struktur. Und diese Struktur ist nicht der Wahrheit verpflichtet, sondern unserem Vorteil im Daseinskampf. So zumindest verstehe ich Darwins Lehre, soweit sie meinem Bewusstsein verfügbar ist.

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Von Gottfried Wilhelm Leibniz stammt ein eindrucksvolles Gleichnis über die menschliche Perzeption, das nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat: „Man muß übrigens notwendig zugestehen, daß die Perzeption und das, was von ihr abhängt, aus mechanischen Gründen, d. h. aus Figuren und Bewegungen, nicht erklärbar ist. Denkt man sich etwa eine Maschine, die so beschaffen wäre, daß sie denken, empfinden und perzipieren könnte, so kann man sie sich derart proportional vergrößert vorstellen, daß man in sie wie in eine Mühle eintreten könnte. Dies vorausgesetzt, wird man bei der Besichtigung ihres Inneren nichts weiter als einzelne Teile finden, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus eine Perzeption zu erklären wäre.“ Zugegeben, die Formulierungen spiegeln die mechanistische Weltsicht der frühen Neuzeit wider. Und doch lässt sich dieses Bild ohne weiteres auf die moderne Hirnforschung übertragen. Auch sie ist mit ihren hochverfeinerten Methoden in der Lage, im Gehirn wie in einer Mühle umherzugehen und ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Sie sieht hierbei, welche Hirnregionen sich bei welchem äußeren Reiz zusammenschalten und zu „feuern“ beginnen. Und doch ist sie nicht in der Lage zu erklären, warum die Hirnaktivität phänomenale Erlebnisse ermöglicht. Auch der Philosoph Philipp Hübl steht vor einem Rätsel: „Unser Hirn besteht aus 100 Milliarden Neuronen und diese wiederum aus unzählbaren Atomen. Weder Atome noch Neuronen haben eine Innenperspektive. Wie kann es dann sein, dass alle zusammen die Grundlage für unser phänomenales Leben bilden?“

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Häufig werden Fragen dieser Art mit dem Begriff „Emergenz“ beantwortet, also mit dem Begriff für die Fähigkeit von Systemen, ab einem bestimmten Grad an Komplexität neue, zuvor nicht „angelegte“ Fähigkeiten zu entwickeln. Doch „Emergenz“ ist auch nur ein Etikett, das nichts erklärt, zumindest die spannende Frage Hübls nicht. Kurz: Alles weist darauf hin, dass wir die Grenze zwischen naturwissenschaftlich beobachtbarer Gehirnaktivität und subjektiv empfundener Wahrnehmung – vermutlich aus prinzipiellen Gründen – niemals werden überschreiten können. Wie können wir dann also beweisen, dass es die Dinge da draußen auch wirklich gibt, die wir da so alles wahrzunehmen vermeinen? Eine falsch gestellte Frage. Wenn wir in puncto der menschlichen Perzeption fortlaufend etwas beweisen wollen, rennen wir fortlaufend gegen die Wand. Wir erliegen hier schlicht den Zwängen eines Weltzugangs, der sich darauf verpflichtet hat, nur das als wahr anzuerkennen, das sich mit Mitteln der Naturwissenschaft oder der Logik beweisen lässt. Einer der zurzeit lautstärksten Kritiker des Konstruktivismus, der Bonner Philosophie-Professor Markus Gabriel, bemängelt diese Haltung als Szientismus, nach dem „nur naturwissenschaftlich abgesichertes und in einer echten oder wenigstens vermeintlichen Expertensprache formuliertes Wissen waschechtes Wissen ist.“ Eine berechtigte Kritik.

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Allerdings stellt sich dann eine nicht unwesentliche Frage: Wenn mir die Naturwissenschaften gesichertes Wissen über unser Bewusstsein nicht liefern können, wo ist es denn dann zu finden? Etwa in der Evidenz der alltäglichen Lebenserfahrung, nach der ich mir einfach sicher bin, dass das Auto, was da gerade an mir vorbeifährt, auch wirklich ein Auto ist? Markus Gabriel würde diese Frage bejahen. Damit begibt er sich allerdings in die Hände einer äußerst trügerischen Sicherheit. Gabriel weist selbst auf so genannte Cotard-Patienten hin, die mit derselben Gewissheit, mit ich das Auto wahrnehme, ernsthaft bekundeten, „tot zu sein und nicht zu existieren.“ Ursache dieses Syndroms sind spezifische Hirnerkrankungen. Anderes Beispiel sind die so genannten außerkörperlichen Erfahrungen. Auch sie beruhen auf funktionellen Veränderungen im Gehirn – und zwar in der so genannten temporo-parietalen Übergangsregion (TPJ). „In diesem Areal laufen“, so der niederländische Primatenforscher Frans de Waal, „die Informationen mehrerer Sinne (Sehen, Tasten und Gleichgewicht) zusammen, um ein einziges Bild von unserem Körper und seiner Ausrichtung im Raum zu konstruieren. Normalerweise ist diese Bild schön kohärent, weil es die einzelnen Sinne integriert, damit wir genau wissen, wo und wer wir sind. Dieses Körperbild wird jedoch gestört, sobald die TPJ beschädigt oder mithilfe von Elektroden stimuliert wird. Wissenschaftler können Probanden gezielt in einen Zustand versetzen, in dem sie über ihrem Körper zu schweben glauben und auf ihn herabschauen oder sich wie einen Schatten, eine Kopie von sich selbst, neben sich sitzen sehen.“ Auch diese Personen beschwören, dies alles so wahrgenommen zu haben – selbstverständlich immer mit derselben Überzeugung, mit der ich mein fahrendes Auto wahrgenommen habe.

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Wenn also kleine Abweichungen in der funktionellen Struktur meines Gehirns in mir Bilder und Überzeugungen erzeugen, die ich zuvor nicht hatte, wie kann ich dann davon ausgehen, dass meine standardmäßige Systemeinstellung die „richtigen“ Bilder und Überzeugungen hervorruft? Damit sehen wir uns mit einem Mal in einem Fliegenglas gefangen, aus dem es keinen Ausweg gibt: Die Evidenz eigener Erfahrung gibt uns ebensowenig letztgültige Sicherheit über die Existenz der Außenwelt wie jeder noch so fundierte wissenschaftliche Nachweis. Und nu? Markus Gabriel hilft sich aus dieser Situation mit folgendem Argument: Wenn alles konstruiert ist, dann ist auch all das, was ich selbst über die Welt zu wissen glaube, konstruiert. Ja, das stimmt. Aber ist das ein Argument gegen den Konstruktivismus? Oder ist es nicht eher ein Plädoyer für eine Haltung, auch die eigenen Überzeugungen mindestens zweimal zu hinterfragen, bevor man mit ihnen hausieren geht – eben aus der Gewissheit, dass mein Gedankengebäude ein Modell von der Welt ist, das notwendig bestimmte Sachverhalte hervorhebt, andere ab- oder ausblendet und deshalb immer schon eine Interpretation dessen ist, was dargestellt werden soll? Für bloggende Wutbürger sicherlich zu komplex, diese Fragen. Und so machen sie es sich mindestens so einfach wie Markus Gabriel, der mit einer eher müden Persiflage auf den Konstruktivismus aufwartet: „Es wäre merkwürdig, wenn Ihnen jemand auf die Frage, ob sich noch Butter im Kühlschrank befindet, antwortete: ´Ja, wobei die Butter und der Kühlschrank eigentlich nur eine Illusion, eine menschliche Konstruktion sind. In Wahrheit gibt es weder Butter noch einen Kühlschrank. Zumindest wissen wir nicht, ob es sie gibt. Trotzdem guten Appetit!“

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Als ob es so einfach wäre. Denn über einzelne Objekte des Lebensalltags – über Kühlschränke, Butter etc. – lässt sich relativ schnell ein Einvernehmen herstellen. Eine Tasse – von welcher Perspektive man sie auch betrachtet – ist eine Tasse. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Aber wie sieht es mit abstrakten Begriffen wie Freiheit, Wahrheit oder Gerechtigkeit aus? Und wie mit komplexen Situationen, wie etwa einem Verkehrsunfall, einem Ehestreit oder einer Debatte über Sterbehilfe? Hier wird die Perspektive, von der aus wir auf diese „Dinge“ schauen, mit einem Male entscheidend dafür, wie wir auf diese „Dinge“ schauen. Sobald wir uns also von den einzelnen Objekten des Lebensalltags lösen, kommen wir sehr schnell auf eine Ebene, bei der die Sachverhalte sehr verwickelt sind, und mit schalen Witzchen über Butter und Kühlschränken nicht mehr weiterkommen.

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Gott sei Dank war Edmund Husserl da aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Betrachtet man Porträtfotos von diesem altehrwürden Philosophen, springt einem immer derselbe ernste Gesichtsausdruck entgegen. Man bekommt instinktiv die Ahnung, dass da einer gerade die ganze Last der Welt schultert. Ein solcher Menschenschlag, so spürt man instinktiv, philosophiert nicht einfach mal so ins Blaue hinein, nein, er arbeitet Philosophie – tiefschürfend, gründlich, dem Sein fest ins Auge blickend. Dieser Edmund Husserl also sah – wie übrigens Markus Gabriel – die Existenz der Außerwelt als gegeben an, rückte dann aber umso kräftiger den Phänomenen mit der ganzen abgrundtiefen Ernsthaftigkeit, die ihm zu Gebote stand, auf den Pelz. Und wie er dabei die Dinge und Tatsachen seinen unbestechlichen, bohrenden Blicken aussetzte, begannen diese so nach und nach ihr Geheimnis zu enthüllen. Husserl stellte fest, dass wir die Dinge und Fakten, sobald sie in unser Bewusstsein treten, immer direkt in ein Gespinst aus Meinungen, Vorurteilen, Spekulationen, Wertungen, Paradigmen, Diskursen etc. einbetten. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Wenn eine Fledermaus mit seiner Ultraschall-Ortung und ein Mensch mit seinem Gesichtssinn eine Pietà „in den Blick“ nehmen, dann registrieren sie vermutlich in sehr ähnlicher Weise die Form und die Konturen dieses physischen Objekts. Und dennoch erkennt allein der Mensch darin zugleich eine Pietà, die Fledermaus nicht. Mit anderen Worten: Wir Menschen weisen den Dingen im Zuge der Wahrnehmung immer direkt Bedeutungen zu und betrachten sie dann aus dieser Perspektive. Anders als der Fledermaus ist es uns nicht mehr möglich, in der Pietà das bloße Objekt mit seinen Konturen zu sehen.

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Ein Mensch, der nie zuvor Berührung mit unserer Kultur hatte – sagen wir: ein Aborigine –, wird die Pietà wiederum ganz anders wahrnehmen. Er wird in ihr wohl eine ältere Frau wahrnehmen, die einen toten jüngeren Mann betrauert. Denn er hat in seinem Verstandesapparat entsprechende Muster zur Erkennung von Frau und Mann ebenso gespeichert wie für jung und alt. Auch die Zeichen von Trauer und Leblosigkeit weiß er zu deuten. Aber dass es sich um Mutter und Sohn, genauer: um Maria und Jesus, handelt, das weiß er nicht. Kurz: Eine Pietà wird auch er nicht erkennen, weil sie in ihrer ikonographischen Bedeutung nur in unserem Kulturkreis etabliert ist. Andererseits treffen sich beide  – der Aborigine wie der Mitteleuropäer – wiederum in einem anderen Punkt: Sie verhalten sich gegenüber dieser Pietà deutlich ehrfürchtiger als gegenüber einem Stein am Wegesrand – dies jedoch wiederum aus unterschiedlichen Gründen: der Mitteleuropäer eher aus religiöser Ehrfurcht (sofern er gläubig ist), der Aborigine aus Respekt vor dem Artefakt, also vor einem auch für ihn erkennbar von Menschen gemachten Kunstwerk. Es wirken bei beiden also unterschiedliche Kategorien- oder Bewertungssysteme, die skurrilerweise zu einem relativ gleichförmigen Verhalten diesem “Ding” gegenüber führen.

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Als Arznei gegen diese “Krankheit”, die Dinge nicht in ihrer puren physischen Präsenz wahrnehmen zu können, verschrieb der gute Professor Husserl die so genannte “phänomenologische Reduktion”, also ein Verfahren, mit dem wir die Bedeutungen, die wir einem wahrgenommenen Ding zuschreiben, abziehen. Ein nachvollziehbarer Ansatz, der aber nie wirklich verfangen hat. Wenn wir beispielsweise die Pietà als hässlich empfinden, dann können wir uns bemühen, diese negativen Emotionen auszublenden und uns ganz dem So-Sein des Bildwerks zu öffnen. Aber wir werden es niemals dahin bringen, von der Statue das Pietà-hafte abzuziehen – zumindest nicht die Angehörigen unseres Kulturkreises. Die sprachlich und sozial vermittelte Bedeutung – die kulturellen, religiösen, weltanschaulichen Implikationen – bleiben untrennbar mit diesem Stein verbunden.  Damit ist der Ausweg aus dem Fliegenglas klar vorgezeichnet: Einerseits die menschliche Perzeption in ihre alten Rechte einsetzen und ihr die Autorität zugestehen, Aussagen über die Außenwelt zu machen. Gleichzeitig die Augen vor den Faktoren, die auf den unterschiedlichsten Ebenen unsere Wahrnehmung und unser Verständnis der Welt konstruieren, präfigurieren und verzerren, nicht verschließen.