Storytelling ist zurzeit in aller Munde. Das ist auch gut so, immerhin gehört es genau da hin. Denn tatsächlich haben die Menschen ihr kulturelles Erbe zu Zeiten, als von der Schrift noch niemand wusste, in Form von Geschichten und Mythen mündlich überliefert. Geschichten zu erzählen oder ihnen andächtig zuzuhören ist also tief in uns verwurzelt. Kein Wunder also, dass auch die professionelle Kommunikation diese Methode für sich entdeckt. Denn Storytelling ist eine schöne Methode, Menschen emotional zu packen und für ein Produkt zu begeistern.
Hermann H. Wala weist auf das schönes Beispiel der Marke Moleskine hin, die es vermag, durch Storytelling ein eher schmuckloses Notizbuch zu einem Kulturgut erster Sahne aufzubrezeln (vgl. Hermann H. Wala: Meine Marke. Was Unternehmen authentisch, unverwechselbar und langfristig erfolgreich macht, Redline 2013):
„Moleskine® ist das Erbe des legendären Notizbuches der Künstler und Intellektuellen der vergangenen zwei Jahrhunderte, von Vincent Van Gogh bis Pablo Picasso, von Ernest Hemingway bis Bruce Chatwin. Ein schlichtes, schwarzes Rechteck, an den Ecken abgerundet, die von einem elastischen Band gehaltenen Vorsatzblätter, die Innentasche: ein anonymes und in seiner Essenzialität perfektes Objekt, mehr als 100 Jahre von einer kleinen, französischen Manufaktur hergestellt, die die Pariser Buchhandlungen belieferte, welche von der internationalen künstlerischen und intellektuellen Avantguarde besucht wurden. Der vertraute Reisebegleiter im Taschenformat enthielt die Skizzen, Notizen, Geschichten und Ideen, bevor diese berühmte Bilder oder Seiten geliebter Bücher wurden.
In seinem Buch Traumpfade erzählt Chatwin uns die Geschichte des kleinen, schwarzen Buches: 1986 lässt der Hersteller, ein Familienunternehmen aus Tours die Rolläden herunter. „Le vrai moleskine n’est plus“, habe ihm die Besitzerin der Papierwarenhandlung in der Rue de l’Ancienne Comédie verkündete, wo er gewöhnlich einkaufte, theatralisch. Chatwin kaufte alle Notizbücher die er finden konnte bevor er nach Australien aufbrach, doch es waren nicht genug.
1997 erweckte ein kleiner Mailänder Verlag das legendäre Notizbuch zu neuem Leben und wählte diesen literarischen Namen, um eine außergewöhnliche Tradition wieder aufleben zu lassen. Im Gefolge von Chatwin nahm das Notizbuch von Moleskine® seine Reise wieder auf und wurde zum unverzichtbaren Gegenstück zur neuen, tragbaren Technologie von heute. Die sich verändernde Realität einfangen, Details und die Einzigartigkeit der Erfahrung zu Papier bringen: Das Notizbuch von Moleskine wird zur Sammelbatterie von Ideen und Gefühlen, die diese Energie dann nach und nach wieder freigibt.“ (zit. n. www.moleskine.com, Stand: September 2015)
Dieser Ansatz, mittels Storytelling einen Gründungsmythos der ganz besonderen Art für ein Allerweltsprodukt zu installieren, ist ebenso einfach wie genial: Denn der Käufer erwirbt mit jedem Notizbuch immer gleich das Gefühl kulturhistorischer Bedeutung mit.
Auch mir drängte sich, als ich im Frühling dieses Jahres in das neue Gebäude am Dahlweg 120a zog, eine Geschichte auf, die erzählt werden will: Es war in einer Nacht des Jahres 2013, als die Feuerwehr zu einem Brand einer alten Lagerhalle im Süden Münsters ausrückte. Was den wackeren Feuerwehrleuten da als erstes in die Nase stieg, war ein Geruch, der den aller anderen Rauchgase überlagerte: der Geruch von Marihuana. Tatsächlich fackelte da vor ihren staunenden Augen gleich eine ganze Plantage sicherlich liebevoll gepflegter Cannabispflanzen ab. Ein Ereignis, das dem Mieter einiges bescherte: vermutlich ein gebrochenes Herz, ganz sicher aber den zeitweiligen Aufenthalt im Münsteraner Gefängnis.
Nachdem die letzten Flammen gelöscht und die letzten Pflanzen geborgen waren, übernahm ein Investor die Halle, riss sie ab – und baute sie nach den alten Plänen wieder auf. So hörte ich jedenfalls. Meine Recherchen ergaben jedoch ein anderes Bild. Die abgebrannte Lagerhalle, das zeigten die während des Brandes geschossenen Fotos eindeutig, hatte mit dem Gebäude, das mein Büro seit diesem Frühjahr beherbergt, nicht die geringste Ähnlichkeit. Auch die verantwortliche Architektin konnte diese Geschichte nicht bestätigen. Das mit dem Brand stimme, aber die Geschichte mit den alten Plänen sei falsch. Sie habe an der Stelle der abgebrannten Halle ein Bauwerk errichtet, dessen Architektur sich in das gewerblich und industriell geprägte Viertel bestens einfügte. Entstanden ist ein Backsteinbau, der von außen aussieht, als knüppelten hinter seinen Fassaden schon seit vielen Jahrzehnten fleißige Schlosser irgendwelche Werkstücke zusammen. Nur eben neuer. Ein Schmuckkästchen.
Wie die Geschichte mit den alten Plänen in Umlauf gekommen ist? Keine Ahnung. Vielleicht nährte ja der Genuss von reichlich Marihuana diese ausufernde Phantasie. Wer weiß das schon? Aber hübsch ist sie dennoch, die Geschichte. Wie alle gut gemachten Geschichten.
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