Von dem unvorstellbaren Aufwand, eine Kokosnuss zu knacken

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Herrje, als Menschenaffe hat man es auch nicht immer leicht. Vor allem, wenn es um die Beschaffung von Nahrung geht. Zumindest damals, als der erste von uns einen Stein genommen hat, um eine Kokosnuss zu knacken. Denn bevor er dazu in der Lage war, hatte er hierfür zunächst jede Menge Grundlagen geschaffen:

  • Er musste in seinem Oberstübchen abgespeichert haben, dass sich innerhalb der harten Schale einer Nuss etwas Eßbares versteckt.
  • Dies konnte er allerdings nur wissen, weil er zuvor bereits von einer aufgebrochenen Kokosnuss gekostet und diese „Erkenntnis“ ebenfalls in seinem Hirn abgelegt hat.
  • Dafür muss er aber zuvor zwischen einer unversehrten Nuss am Baum und einer aufgebrochenen Kokosnuss einen Zusammenhang erkannt, also beide in seinem Gehirn abgelegten Muster miteinander kombiniert haben. Vielleicht hat er eine Kokosnuss vom Baum fallen sehen, die beim Aufprall zersprang.
  • Dann muss er irgendwann auf den Trichter gekommen sein, dass er selbst den Übergang von der heilen zur geknackten Nuss bewerkstelligen kann – z. B. mit einem Stein.
  • Dafür musste er aus einem Kosmos an Steinen genau die Klasse an Objekten zu erkennen lernen, die weder zu leicht noch zu schwer sind.
  • Usw usf …

Uff! Ein unvorstellbarer zerebraler Aufwand, um ein einziges Ergebnis zu erzielen: an Nahrung zu kommen!

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Diese komplexen Handlungskaskaden waren nicht beim ersten Hinguck möglich. Die erkannten Dinge mussten sich über einen langen langen Zeitraum ins Gehirn einprägen, ehe sie als mentale Repräsentationen der äußeren Welt abgespeichert und beliebig miteinander kombiniert werden konnten. Und während der Menschenaffe sich mit diesem unvorstellbaren Aufwand eine neue Nahrungsquelle erschließt, erarbeitet er sich wie nebenbei eine Machtposition gegenüber der Welt. Aus einer Reiz-Reaktions-Maschine, die direkt auf das Angebot ihrer unmittelbaren Umwelt reagiert, entwickelt er sich zu einem Wesen, das sich von den Direktiven der Natur sukzessive abkoppelt. Nur zur Illustration: Vom Standpunkt einer „ewigen Wahrheit“ stehen ein Stein und eine Kokosnuss in keiner herausgehobenen Beziehung zueinander. Erst indem der Menschenaffe den Stein auf die Kokosnuss schlägt, um an ihr Inneres zu kommen, setzt er sie in diese Beziehung ein. Damit schafft er eine neue Wirklichkeit – seine Wirklichkeit, die allein für ihn Relevanz hat.

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Daraus ergeben sich erhebliche Konsequenzen für das, was wir „Erkenntnis“ nennen:

  • Aus der unendlichen Fülle der Welttotalität können wir immer nur eine endliche Anzahl an Dingen „erkennen“.
  • Diese Dinge erkennen wir genau dann, wenn sie eine besondere Relevanz für uns haben.
  • Sie haben nur dann für uns eine Relevanz, wenn sie uns zu etwas verhelfen. Im Zentrum unserer Erkenntnis stehen also nicht Dinge, sondern Relationen. Es geht nicht um den Stein an sich, sondern um den Stein, den man für etwas nutzen kann.
  • Wir laden damit die Dinge mit Bedeutung auf, die sie ursprünglich nicht haben – und machen so ihre mentalen Repräsentationen in unserem Bewusstsein zu Symbolen.
  • Im Zuge unseres Handelns kombinieren wir die Dinge mit Hilfe dieser Symbole zielgerichtet miteinander und erschaffen eine neue Wirklichkeit.
  • In letzter Konsequenz ist Erkenntnis ein Mittel der Weltbeherrschung. Nur mit Hilfe unseres Erkenntnis-Apparates lernten wir das Feuer zu beherrschen und zum Mond zu fliegen.

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Es ist bis heute nicht wirklich bekannt, wie die Sprache zu den Menschen kam. Es wurde vermutet, dass die ersten „sprachlichen“ Äußerungen aus einer Nachahmung von Naturlauten hervorgegangen seien. Für andere Theoretiker resultierte Sprache aus emotionalen Rufen, die dann sukzessive mit den Dingen der äußeren Welt verbunden wurden. Diese und andere Theorien sind jedoch rein spekulativ – und müssen es auch sein, weil es aus dieser Zeit keine Dokumente auf uns gekommen sind, die die eine oder andere Theorie beweisen könnten. Dennoch lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:

  • Sprache wurde in dem Moment notwendig, in dem sich die frühen Menschen zu immer größeren Verbänden zusammenschlossen. Erfahrungen, die bis dato über die unmittelbare Anschauung weitergegeben wurden, konnten nun mittels eines Zeichensystems mit erheblich vergrößerter Breitenwirkung übertragen werden.
  • Sprache übernimmt dieselbe Funktion, die schon bei den Menschen in vorsprachlicher Zeit Bedeutung hatte: die Funktion der  Weltbeherrschung.
  • Sprache erweitert den Aktionsraum des Menschen erheblich. Er war nicht mehr an der Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt gebunden. Sprache verhalf ihm nach und nach, in die Zukunft ebenso wie in die Vergangenheit zu reisen, sich in ferne Gegenden zu versetzen, Wirklichkeit und Möglichkeit voneinander zu trennen, Ursachen mit Wirkungen miteinander abzugleichen und Dinge zu Nicht-Dingen zu machen, also „nein“, „kein“, „nicht“ und „nichts“ zu sagen.

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